Virtuosity - Liebe um jeden Preis
Es wäre möglich gewesen, denn eine neue Dose mit den orangefarbenen Pillen war wie durch Zauberhand in meinem Geigenkasten aufgetaucht, mit den besten Empfehlungen von Diana. Ich hatte die Tabletten mehrmals angestarrt, aber bisher noch nicht weggespült. Nicht, dass es irgendetwas bringen würde. Diana hatte sicher einen schier unerschöpflichen Vorrat in ihrem Arzneimittelschrank angelegt.
»Jetzt bist du also ganz erwachsen, wie?«
Ich zuckte die Achseln, da ich nichts zugeben wollte, was er gegen mich verwenden könnte. »Scheint so.«
»Ein paar Monate und du wirst auf Juilliard gehen.«
»Ja.«
»New York wird gut für dich sein. Es ist Zeit.«
Wo wir gerade beim Thema sind: Wieso verschwenden Sie gerade unsere Zeit? , hätte ich am liebsten gefragt. Das Juilliard war noch eine Ewigkeit entfernt, aber der Guarneri rückte immer näher. Die Vorstellung, im Herbst auf das Konservatorium zu gehen, hatte sich zu einem vagen Ereignis in der Zukunft verwandelt, das zu weit weg war, um sich darüber Sorgen zu machen. Heute müssten wir zumindest das Programm fürs Halbfinale durchgehen.
»Nichts mehr übrig«, fuhr Juri kryptisch fort und sprach dabei eher zur Wand als zu mir. Dann tippte er sich mit dem Finger gegen den Schädel und starrte mich aus blutunterlaufenen Augen an. Vielleicht hatte er heute Morgen schon zu viel getrunken. Oder vielleicht waren es nur die geschwollenen Tränensäcke, die ihm ein lebenslanger Wodkagenuss beschert hatte. Er räusperte sich: »Samstag war …«
Ich ließ die Finger über die geschwungenen Armlehnen aus Holz gleiten und hielt die Luft an.
»Samstag, das war Carmen.«
Ich ließ die Luft wieder ab und atmete den süßlich scharfen Geruch des Pfeifentabaks ein.
»Jeder Wettbewerb, jeder Auftritt, jeder Gewinn, jede Aufnahme – alles perfekt, weil du spielst wie ich sage. Perfekt, aber nicht du.«
Er löste seine verwachsenen Finger von der Pfeife, legte sie flach auf den Schreibtisch und starrte auf sie hinab. »Deine Finger waren gut, seit meine nicht mehr arbeiten«, sagte er.
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Ich zwang mich dazu, sie mir vorzustellen, wie sie gewesen sein mochten, als Juri noch jung war, glättete in meiner Vorstellung alle Falten und Knoten, bog alle Verkrümmungen gerade. Ein Schmerz füllte mein Herz. Würden meine Hände auch eines Tages so aussehen?
»Die letzten Monate waren so«, fuhr er fort und führte die Fäuste zusammen, sodass die Knöchel wie die Hörner von Stieren gegeneinanderstießen. »Mein Fehler. Du warst so weit, aber ich tat, als sähe ich nicht. Ich dachte, ich könnte es verlängern, dass ich spielte durch dich …«
Er drehte sich mit dem Stuhl um und sah aus dem Fenster. Dann murmelte er, eher zu sich selbst: »Aber ich hatte Glück, zwei Karrieren …«
Ich hatte verstanden. Trotz seiner unbestimmten Andeutungen und seines Akzents, von dem ich hätte schwören können, dass er stärker wurde, je länger Juri in Amerika lebte, wusste ich, worauf er hinauswollte. Er war mit mir fertig. Ich hatte mir das Ende ganz anders vorgestellt – aber er war weder wütend, noch wirkte es wie eine Strafe –, und doch schien es so umso realer. Zumindest endgültiger. Es war eine sanftere Art des Abschieds.
Die Tränen, die ich vor Clark noch zurückgehalten hatte, schossen nun wieder in meine Augen, aber diesmal konnte ich sie nicht zurückdrängen und sie liefen meine Wangen hinunter. Juri bemerkte es nicht oder war so nett, keine Grimasse zu schneiden, wie er es an jedem anderen Tag getan hätte.
Ein Gefühl von Bedauern breitete sich schmerzhaft in meinemganzen Körper aus. Warum war ich nur so impulsiv gewesen? Ich hatte einfach alles über das Tschaikowsky-Konzert über Bord geworfen, was er mir beizubringen versucht hatte, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie er darauf reagieren könnte. Ich brauchte ihn. Und es war respektlos und dumm gewesen, ihn nicht einmal um Rat zu fragen, ehe ich die Inderal abgesetzt hatte. Mit einem letzten Fünkchen Hoffnung klammerte ich mich an einen einzigen Gedanken: Vielleicht könnte ich ihn umstimmen. Aber im Grunde wusste ich, wie hoffnungslos es war. Es würde ihn nur anwidern, wenn ich ihn anflehte. Er sog jetzt wieder an seiner Pfeife und starrte auf die Rauchwolken, die um uns herum in die Luft stiegen.
»Das ist nicht traurig«, sagte er.
Peinlich berührt wischte ich meine nassen Wangen mit dem Ärmel trocken und schniefte.
»Du brauchst mich
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