Virtuosity - Liebe um jeden Preis
sein. Ich hoffe, dugewinnst. Ich kann nur nicht kommen und zuhören. Ich glaube, du wirst es verstehen. Meine Familie hat ihre Flüge hierher storniert und ich werde Samstagmorgen zurück nach Hause fliegen. Zwar hatte ich mir meine Rückkehr ganz anders vorgestellt, aber es ist trotzdem irgendwie eine Erleichterung.
Ich fühle mich wie ein Vollidiot wegen dem, was zwischen uns passiert ist, dass ich dich gebeten habe, mich gewinnen zu lassen. Das hätte ich niemals tun dürfen. Ich habe die letzten paar Jahre versucht, meinen Bruder mit irgendeiner großartigen Leistung aufzumuntern, aber tief in meinem Innersten weiß ich, dass es nie genügen wird. Für mich, meine ich, nicht für ihn. Er ist mein kleiner Bruder und denkt sowieso, dass ich ein Held bin, selbst wenn ich mich wie ein Blödmann benehme. Also, was ich damit sagen will, ist, dass du kein Mitleid mit mir haben musst. Auch wenn ich den Guarneri-Wettbewerb gewonnen hätte, das hätte gar nichts für Robbie geändert – es hätte ihn nicht geheilt oder die Dinge fairer gemacht. Bei einem Wettbewerb geht es nicht darum, wer es am meisten verdient zu gewinnen. Das weiß ich selbst, nur hatte ich es irgendwie vergessen.
Ich habe es dir schon einmal gesagt und du hast mir nicht geglaubt, aber vielleicht glaubst du mir jetzt. Ich habe mich dir gegenüber nie verstellt. Vielleicht wäre alles viel einfacher, wenn es so gewesen wäre. Vielleicht würde ich mich nicht so schrecklich fühlen, wenn das alles nur ein Spielchen gewesen wäre, aber das war es nicht. Du hast mich nur überrascht. Ein schönes, talentiertes Mädchen, das immer da war, wenn ich mich umdrehte – es ist etwas passiert, was jedem anderen Typen in meiner Situation passiert wäre, ich habe mich in dich verliebt. Vielleicht geht es mir deshalb jetzt so dreckig. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo der Guarneri-Schmerz aufhört und der Carmen-Schmerz anfängt.
Diese E-Mail ist wesentlich länger als geplant, aber es tut gut, mit dir zu reden, selbst wenn ich gar nicht richtig mit dir sprechen kann. Ich vermisse dich. Sei morgen fantastisch!
Jeremy
Ich zitterte. Es war zu spät. Die Zeit, eine Entscheidung zu treffen, tapfer zu sein und das Richtige zu tun, war bereits verstrichen. Oder zumindest redete ich mir das ein.
Meine Haare waren schon frisiert: glatt geföhnt, aufgedreht und dann mit kleinen Perlen hochgesteckt, ganz genau, wie Diana es vorgeschrieben hatte. Mein Kleid hing an der Tür und wartete darauf, dass ich es anzog. Ich saß in Unterwäsche und Strumpfhose am Computer und versuchte mich irgendwie abzulenken, bis es Zeit war zu gehen.
Ich hatte bereits zwei Inderal genommen. Diana hatte sie zusammen mit einem Glas Grapefruitsaft gebracht, als ich geübt hatte. Sie hatte mir dabei zugesehen, wie ich sie schluckte. »Zwei jetzt, damit du ruhig wirst, und drei vor dem Auftritt«, hatte sie gesagt. »Wenn der Wettbewerb vorbei ist, können wir uns darüber unterhalten, sie langsam abzusetzen.« Ich glaubte ihr kein Wort, wollte mich aber nicht mit ihr streiten.
Die Taubheit tat zu gut. Ich schloss die Augen und spürte die Ruhe, die sich wie kühlendes Wasser in meinem Körper ausbreitete. Ich müsste nur heute Abend durchstehen, einfach spielen und meinen Preis entgegennehmen, ohne dabei zu viel nachzudenken. Ich hatte keine andere Wahl.
In einer Stunde mussten wir aufbrechen. Es war zu spät. Aber wenn das stimmte, wieso musste ich dann immer wieder Jeremys E-Mail lesen, als könnte sie mich irgendwie vor mir selbst retten? Wieso brachte ich es nicht fertig, sie einfach zu löschen?
Ich nahm die Abendrobe vom Bügel und zog sie an. Was Diana gesagt hatte, stimmte. Sie war perfekt. Zu perfekt.
Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenschrecken. Es war Clarks typisches lautes Klopfen, nicht Dianas zaghaftes.
»Darf ich reinkommen?«, rief er.
»Klar.« Ich öffnete die Tür.
»Wow«, entfuhr es ihm, als er vor mir stand. »Ganz erwachsen.«
»Sag jetzt bloß nichts Nettes, Clark. Ich bin so schon fix und fertig.«
»Du siehst aber gar nicht fix und fertig aus. Du scheinst immer vollkommen ruhig, bevor du spielst. Deine Mutter sitzt dagegen unten und zittert wie Espenlaub. Man könnte meinen, sie ist diejenige, die auf die Bühne muss.«
Ich schaffte es, ihn anzulächeln, aber ich konnte an nichts anderes als an Jeremys E-Mail denken.
»Ich soll dir ausrichten, dass die Glenns heute Abend zum Konzert kommen und dich morgen zum Essen ausführen wollen – ein
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