Virus (German Edition)
Lage, sich auf seinen Beinen zu
halten, und bewegte sich in einer seltsam gekrümmten Art. Starke Transpiration
hatte sein längliches Haar strähnig werden lassen. Sein Gesicht war übersät von
unzähligen winzigen Schweißperlen, die das durch die Glasfront strömende
Sonnenlicht reflektierten und ihn scheinen ließen wie eine Lampe. Konterkariert
wurde das weiße Leuchten seines Gesichts durch riesige, bis an die Ränder der
Iris geweitete, schwarze Pupillen, die aus seinen weit aufgerissenen Augen
hervorzutreten schienen, und eine geschwärzte Zunge, die stark angeschwollen
aus seinem seltsam schief geöffneten Mund heraushing. Die Schwellung der Zunge
musste der Grund sein, warum ihm eine klare Artikulation nicht möglich war, und
weiterhin stieß er kehlige A-Laute aus, während er in seiner seltsam gekrümmten
Art durch die Empfangshalle hinkte. Holger fiel nur ein einziger Vergleich ein,
um den Mann zu beschreiben: vom Teufel besessen. Obwohl er nicht an Gott noch
an den Teufel glaubte, so konnte er doch nicht anders, als dies zu assoziieren.
Noch immer untermalte der grausame Posaunenton das Bild des Schreckens.
„O, Gott! Marcel!” rief Debbie
aus. Es war also tatsächlich Trébor.
Dieser musste sie gehört haben,
denn er änderte plötzlich seine Richtung und taumelte auf Holger und Debbie zu.
„Rufen Sie einen Notarzt,
schnell!” rief Holger dem Rezeptionisten zu. „Sagen Sie, wir hätten hier einen Vergifteten!
Eine Wermutvergiftung!”
Debbie machte einige Schritte auf
Trébor zu. Dieser intensivierte augenscheinlich seine Bemühungen, sich zu
artikulieren, setzte immer wieder neu an, doch mehr als winzige Abweichungen in
den kehligen A-Lauten war er nicht zu produzieren imstande. Schließlich gab er
es auf, verstummte und verbeugte sich stattdessen tief vor Debbie. Holger
konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, Trébor versuche mit seiner Verbeugung
exakt das zu sagen, was zu artikulieren er nicht mehr fähig war. Dann brach der
Virologe zusammen.
Holger fragte sich, wo der
Notarzt blieb. Jemand musste etwas tun. War denn kein Arzt in der Nähe?
„Ich brauche nasse Handtücher”,
hörte er plötzlich Debbie hinter sich brüllen. „Kaltes Wasser! Handtücher in
kaltem Wasser! And fuckin’ hurry up! He’s dying! ”
Bewundernd sah Holger, wie Debbie
ohne zu zögern die erste Hilfe übernahm. Gewiss war sie als Biologin mit den
grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Körpers vertraut, doch ihr
Fachgebiet war die Mikrobiologie, und davon, eine Ärztin zu sein, war sie
wahrscheinlich ähnlich weit entfernt wie er.
Holger hätte gerne geholfen, doch
er wusste nicht recht wie und hatte Angst, im Weg zu stehen. Nicht so Debbie,
der er mit Hochachtung zusah, wie sie Trébors Puls fühlte und ihn dann in eine stabile
Liegeposition brachte.
„Wir müssen seinen Kreislauf
beruhigen, damit das Gift nicht so schnell zirkulieren kann”, sagte sie fast
mehr zu sich. Es klang, als versuche sie sich selbst einzureden, dass das, was
sie tat, richtig war.
Ein Hotelangestellter brachte die
nassen Handtücher, die Debbie Trébor auf die Stirn und um die Waden legte.
„Kreislauf beruhigen, Fieber
senken, bei Bewusstsein halten”, sagte sie zu sich und begann, in sanften
Worten zu Trébor zu sprechen und ihm Fragen zu stellen, um ihn bei Bewusstsein
zu halten.
Holgers Bewunderung stieg.
Offenbar hatte sie nicht den Hauch einer Ahnung, was sie da tat, sondern
handelte einfach so, wie ihr gesunder Menschenverstand es vorgab. Doch im
Gegensatz zu ihm, der Angst gehabt hatte, einen Fehler zu begehen, und deshalb
gezögert hatte, hatte sie sofort eingegriffen.
Wenige Augenblicke später traf
der Notarzt ein.
„Wo ist der Patient?” rief er
noch von der großen Drehtür am Eingang aus. Holger winkte ihn herüber und der
Profi übernahm.
„Wer hat behauptet, es handele
sich um eine Wermutvergiftung?” fragte er, während er mit einer Lampe den
Pupillenreflex Trébors überprüfte, und ein Rettungssanitäter eine
Infusionsnadel in seinen Handrücken schob.
„Ich”, sagte Holger.
„Sie helfen dem Opfer kaum, wenn
Sie die Rettungskräfte mit falschen Informationen versorgen”, erwiderte der
Notarzt. „Wir sind von einer Lebensmittelvergiftung ausgegangen.”
„Das habe ich aber nie gesagt”,
verteidigte sich Holger. „Ich habe von einer Wermutvergiftung gesprochen. In
Wermut ist ein Nervengift.”
Der Notarzt blickte zu Holger
auf. „Thujon ist ein äußerst schwaches Gift. Um
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