Virus (German Edition)
ziemlich schnell finden, in jedem
Falle, bevor das Werk vollendet, der letzte Mord begangen war. Für jeden
weiteren Mord gab es eine ganz bestimmte Art, wie das Opfer umkommen sollte und
auch die Auswahl der Opfer war wichtig.
Das nächste Opfer musste ein
kanadischer Virologe sein und er musste durch Wermut sterben. Ein deutscher
Pfarrer, der durch Genickbruch starb, passte nicht ins Schema. Sein Partner
wäre alles andere als erfreut, wenn so etwas das Gesamtkunstwerk beschmutzen
würde.
Während er sich diese Gedanken
machte, hatte der Pfaffe seine Suche nahezu beendet. Er hatte den großen
Wäschehaufen auf dem Boden durchwühlt, er hatte die Wäschekörbe überprüft und
er hatte sämtliche gefalteten Handtücher und Bettbezüge aus dem Regal gerissen,
um dahinter nachzusehen. Jetzt öffnete er den Schrank. Kurz darauf verließ er
die Wäschekammer wieder.
Der Mann im Kapuzenpulli
verharrte noch fünf Minuten in dem Schacht, bis er sich sicher sein konnte,
dass der Pfarrer sich nicht mehr auf diesem Flur aufhielt. Dann kletterte er
aus seinem Versteck und verließ das Gebäude ungesehen durch den
Lieferanteneingang.
–––––
Holger gab die Suche auf. Er
hatte inzwischen das komplette vierte und fünfte Stockwerk abgesucht. Irgendwie
musste ihm der Kapuzenmann entwischt sein.
Die ganze Zeit während seiner
Suche hatte er sich gefragt, was er denn tun solle, wenn er den Mann
schließlich fände. Er war von Natur aus kein unsportlicher Typ, hatte in seiner
Jugend viel Fußball gespielt, doch er hatte sich nie in seinem Leben ernsthaft
geprügelt, und seit dem Tod von Natalia keinen Sport mehr betrieben, wenn man
vom Hanteltraining mit dem Bierglas einmal absah. Alleine das Rennen durch die
Flure war mehr Training gewesen als alles zusammengenommen, was er in den
letzten zwei Jahren absolviert hatte.
Dann plötzlich einem Mann
gegenüber zu stehen, der zumindest psychisch in der Lage war, Menschen zu
töten, war keine allzu verlockende Vorstellung. Natürlich musste das nicht
zwangsläufig bedeuten, dass der Mann auch physisch stark war, doch seine Statur
hatte recht kräftig gewirkt. Irgendeine Art seltsamen und mit Sicherheit
unterbewussten Verantwortungsgefühls hatte ihn angetrieben. Hätte er bewusst
gehandelt, so hätte er sich dieser Gefahr mit Sicherheit nicht ausgesetzt.
Besonders jetzt, wo ihm vielleicht nicht mehr alles egal war.
Er holte Debbie in ihrem Zimmer
ab und stellte erfreut fest, dass diese mehr als erleichtert war, ihn zu sehen.
Doch für dergleichen war jetzt nicht der Moment. Sie mussten überlegen, was zu
tun sei. Debbie schlug vor, Trébor ausrufen zu lassen. Es war nicht nur ein
vernünftiger Vorschlag, es war in erster Linie auch das Einzige, was ihnen im
Moment einfiel.
Holger spürte seine Knochen und
die Tatsache, dass er auf die vierzig zuging. Er würde morgen einen saftigen
Muskelkater haben. Früher hatte er regelmäßige Strandläufe gemacht. Er
beschloss, diese wieder aufzunehmen, sollte es ihm jemals gelingen, seine
Festung der Gleichgültigkeit hinter sich zu lassen. Sollte es ihm nicht
gelingen, war es sowieso egal.
Sie erreichten die Lobby und rannten
auf die Rezeption zu, doch in eben dem Moment, da der Rezeptionist sie nach
ihrem Begehr fragte, ertönte ein Ton. Der Ton war schrecklich und wunderschön
zugleich. Am ehesten vielleicht noch mit dem einer Posaune vergleichbar, aber
doch anders. Ein unbeschreiblich schöner Klang, doch durch seine Fremdartigkeit
und Deplatziertheit auch ebenso furchtbar wie Angst einflößend.
Holger blickte Debbie alarmiert
und fragend an. Sie nickte. Es war der gleiche Ton, den sie gehört hatte, als
der Blitz ihren Chef tötete. Es war mit Sicherheit auch der gleiche Ton, der
den Tod von Professor Dickinson begleitet hatte, und er konnte nur eines
bedeuten: die Ankündigung eines weiteren Mordes. Suchend blickte sich Holger in
der Empfangshalle um.
Und plötzlich gesellten sich zu
dem todankündigenden Ton weitere Laute, seltsam entstellte, geröchelte Laute. Sie
mochten einer menschlichen Kehle entspringen, wirkten aber völlig
unartikuliert. Holger drehte sich um, um die Quelle dieser Laute zu ergründen,
und fuhr zusammen. Er spürte, wie Debbie im selben Moment das Bild gesehen
haben musste, denn sie griff reflexartig nach seinem Arm und umklammerte ihn.
Das Bild, das sich ihnen darbot,
war an Grausamkeit kaum zu überbieten. Aus einem der Aufzüge taumelte ein Mann
im knittrigen hellen Anzug. Er war kaum in der
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