Virus (German Edition)
einen Menschen in diesen
Zustand zu versetzen, müsste er mindestens fünfzig Milliliter davon zu sich
genommen haben.”
„Dann hat er das wohl”, gab
Holger zurück.
„Was macht Sie so sicher, dass es
eine Thujon-Vergiftung ist”, fragte der Notarzt weiter, während er mit seiner
Lampe an der geschwollenen Zunge vorbei in Trébors Rachen zu leuchten versuchte.
„Ich weiß es einfach. Wieso, kann
ich Ihnen nicht erklären. Aber Sie müssen mir glauben”, antwortete Holger.
Der Notarzt nickte schließlich
und gab ein paar Anweisungen an die Sanitäter, die Holger nicht verstand. Einer
von ihnen holte daraufhin eine Ampulle aus seinem Erstversorgungskoffer hervor
und zog eine Spritze auf.
„Nun, Sie könnten Recht haben”,
sagte der Notarzt. „Niemand wird eine so hohe Dosis Thujon freiwillig zu sich
nehmen. Aber jemand könnte sie ihm verabreicht haben. Sicher ist, dass jemand
anderes, ein Dritter, diesem Mann zugesetzt hat.”
„Woran lesen Sie das ab?” fragte
Holger.
„An seiner Zunge”, erwiderte der
Mediziner. „Die Schwärze ist Tattoo-Farbe. Jemand hat ihm etwas auf seine Zunge
tätowiert. Daher auch die Schwellung. Sobald die Schwellung zurückgeht, werden
wir das Motiv sehen können.”
Holger erinnerte sich an das leise
Surren, das er wenige Stunden zuvor aus Trébors Zimmer zu hören geglaubt hatte,
als Debbie und er ihn hatten warnen wollen, und ein kalter Schauer überkam ihn.
53.
Um Punkt fünf Uhr nachmittags
trat Wegmann durch die Tür der Polizeidirektion nach draußen, den gierigen
Mediengeiern gegenüber. Kollegen hatten ein Rednerpult auf die oberste der drei
Stufen vor dem Eingang gestellt, das die Reporter sofort mit einer Unzahl von
Mikrofonen bestückt hatten.
Das Wetter war inzwischen richtig
schön geworden und Wegmanns erste Wahrnehmung nach dem Verlassen des Gebäudes
war ein latenter Schweißgeruch. Was waren das bloß für Leute, die nur für eine
Story den ganzen Tag in der Sonne ausharrten, schwitzend, stinkend, wahrscheinlich
auch hungernd und dürstend?
Angst hatte Wegmann nicht vor
ihnen. Er hatte sich seinen Text sorgfältig zurechtgelegt und würde einfach den
Schwarzen Peter weiterschieben.
Ohne große Umschweife fing er
damit an, dass er keinerlei Aussagen zu irgendwelchen Ermittlungen tätigen
werde. Leise Unmutsbekundungen aus der Reporterschar waren das Resultat.
Unbeirrt fuhr Wegmann fort, das Einzige, wozu er sich äußern wolle, sei die
Verhaftung von Jo Somniak. Es sei die Aufgabe der Polizei, die Einhaltung von
Gesetzen, Vorschriften und Verboten zu überwachen und durchzusetzen. Das
Verbot, Fotos aus dem Kongresszentrum zu veröffentlichen, sei nicht von der
Polizei erlassen worden, und es stehe der Polizei gar nicht zu, über die
Rechtmäßigkeit dieses Verbots zu urteilen.
Das Verbot sei aber nun mal
vorhanden und Herrn Somniak bekannt gewesen. Er habe es gebrochen, und somit
sei die Polizei verpflichtet, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Man habe
hier absolut keinen Handlungsspielraum.
–––––
Tanja Franke stand neben ihrem
Kameramann inmitten der Reporterschar und hörte mit wachsendem Unmut dem leeren
Gesülze des Hauptkommissars zu. Das nannte der eine Pressekonferenz? Er gab
nicht die kleinste Information preis, nichts Fundiertes, nichts worüber sich
auch nur im Geringsten zu berichten lohnen würde. Er versuchte lediglich, den
Schwarzen Peter weiterzuschieben, sich persönlich aus der Schusslinie der
Medien zu bringen.
Ob sie mal in seiner
Vergangenheit herumstochern sollte? Ein Bericht über die Inkompetenz der
Polizei war leider nichts wirklich Neues. Nein, es würde nichts bringen. Das
alles hier brachte nichts. Seit Stunden stand sie sich die Beine in den Bauch
und alles, was dabei herausgekommen war, war ein kurzer Bericht über die
skandalöse Verhaftung Somniaks gewesen. Wie war sie bloß in die Boulevard-Nische
abgedriftet? Eine seriöse Journalistin hatte sie werden wollen, vielleicht
Auslandskorrespondentin oder sowas.
Aber das einzige Jobangebot war von
einem Privatsender gekommen. Begonnen hatte sie in der Nachrichtenredaktion,
doch wegen ihres guten Aussehens hatte man schnell festgestellt, dass sie vor
der Kamera quoteneffektiver eingesetzt werden konnte, und sie hatte kurze
Nachrichtenbeiträge gedreht. Dann hatte der Sender ein neues Format entwickelt,
eine Art Boulevard-Magazin, das sich ausschließlich mit Skandalen beschäftigte.
Man hatte ihr die Moderation angeboten, sie mit einem Gehalt
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