Virus (German Edition)
Möglichkeit bestand nun mal leider nicht.
Ihr Handy klingelte. Leicht
genervt ob der Unterbrechung hob sie ihren Kopf vom Okular des Mikroskops und
nahm ab. Es war Driver. Ein vietnamesischer Epidemiologe, dessen Name Debbie
entfernt bekannt vorkam, wurde seit sechs Wochen vermisst.
Sie beendete das Gespräch und
ging zurück an ihr Mikroskop, doch ein Detail dessen, was Driver ihr soeben
erzählt hatte, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen und blockierte ihre
Gedanken. Sechs Wochen! Der arme Mann. Sechs Wochen lang Gefangener eines
psychopathischen Serienkillers. Gefangen nur, um schließlich ermordet zu
werden. Vermutlich – wenn man die bisherigen Taten betrachtete – auf
bestialische Art und Weise.
Seltsame Bilder von einem dunklen
Kellerverlies manifestierten sich vor Debbies müdem inneren Auge. Ein dunkler
Keller, Dunkelheit. Die vierte Posaune!
Von einem Moment auf den anderen
war Debbie hellwach. Sie hastete nach dem Labortelefon und wählte mit
zitternder Hand Drivers Nummer. Wenn ihre Annahme zutraf, würde man nicht mehr
ganz so viel Zeit haben, wie zunächst erhofft.
Driver nahm ab.
„Ich fürchte, ich habe eine Idee,
wie der nächste Mord verübt werden wird”, sprudelte es aus ihr heraus, kaum
dass Driver die Leitung geöffnet hatte.
„Der Mord kommende Nacht?” fragte
Driver. Der leichten Irritation in seiner Stimme nach zu urteilen musste er
sich erst ordnen.
„Der Mord wird nicht nachts
stattfinden. Wir haben von Dunkelheit auf Nacht geschlossen, aber das macht
keinen Sinn. Dann wäre die Nacht lediglich die Tatzeit, aber Dunkelheit wäre
nicht notgedrungen für den Tod verantwortlich.”
„Das stimmt”, warf Driver ein.
„Aber wie soll Dunkelheit eine Mordwaffe sein?”
„Sie sagten, Tran Quoc Tuan sei
vor sechs Wochen entführt worden.” Debbies Stimme überschlug sich fast. „Was,
wenn der Mörder den armen Professor seitdem in absoluter Dunkelheit gefangen
hält? Dann würde einfaches Sonnenlicht ihn bereits töten.”
Driver antwortete nicht sogleich.
„Würde es das?”
„Ich bin keine Neurologin”,
erwiderte Debbie. „Aber nach sechs Wochen sensorischer Deprivation würde plötzliches
Licht eine derartige Reizüberflutung darstellen, dass das Gehirn nicht mehr in
der Lage wäre, die vegetativen Prozesse zu steuern. Ich schätze, Herzversagen
wäre dann wahrscheinlich die Todesursache. Oder was auch immer. Ich kann mir
jedenfalls nur schwer vorstellen, dass jemand das überleben kann. Zumal der
Körper nach sechs Wochen Gefangenschaft und Dunkelheit sowieso stark geschwächt
sein dürfte.”
Erneut dauerte es einige
Augenblicke, bevor Drivers Stimme wieder aus dem Hörer drang.
„Ich schätze, das macht Sinn”,
sagte er schließlich.
„Und die Dunkelheit wäre ein immanenter
Faktor für den Tod. Unmittelbar töten würde dann das Licht, Gott selber, wenn
Sie so wollen. Aber die Dunkelheit vorher wäre die von der vierten Posaune
begleitete Strafe Gottes.”
Debbie war sich plötzlich sicher,
dass ihre These korrekt war. Die Dunkelheit passte nun hinein und auch die
Tatsache, dass der vietnamesische Professor bereits seit sechs Wochen vermisst
wurde, unterstützte sie. Alles ergab einen Sinn.
„Das Dumme an der Sache ist
allerdings”, setzte Driver an, „dass es uns äußerst schwer fallen dürfte, den
Mord zu verhindern. Wir können schlecht jeden dunklen Keller in Petersdamm
durchsuchen.”
„Ich weiß”, sagte Debbie
resignierend. „Ich weiß.”
Damit legte sie auf. Driver hatte
es gesagt – sie konnte Tran Quoc Tuan nicht helfen. Alles, was sie tun konnte,
war, den Virus zu untersuchen.
81.
Holger wusste nicht, wie lange er
noch in der Kirche gesessen hatte, doch es mochte durchaus eine Stunde gewesen
sein. Er hatte die Ruhe genossen und weiter über sein Leben reflektiert. Sein
Entschluss allerdings war der gleiche geblieben. Er würde einen Neuanfang
wagen. Einen Neuanfang als Pfarrer und einen als Mensch.
Er verließ die Kirche und trat in
den strahlenden Sonnenschein des späten Vormittags hinaus. Die Sonne
verbreitete im Mai bereits eine wohlige Wärme, obschon der Seewind noch immer
recht frisch war. Ein guter Tag, um ein neues Leben zu beginnen.
Auf dem baumgesäumten Vorplatz
zur Kirche spielten ein paar Jungen Fußball. Sie mochten etwa zehn Jahre alt
sein, den einen oder anderen von ihnen erkannte Holger sogar. Er überlegte, was
er früher getan hätte, als er noch ein guter Pfarrer gewesen war. Er hätte mit
den Jungen gespielt,
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