Virus (German Edition)
sie von links nach rechts zu lesen begonnen.
Als sie merkte, dass die Buchstaben auf dem Kopf standen und sie von rechts
nach links würde lesen müssen, war es bereits geschehen. Sie hatte die
unglaubliche Eigenschaft des Satzes erkannt.
„It’s a fuckin’
palindrome!” rief sie aus, während ihr Herz mit gewaltigen Schlägen zu rasen begann.
„Was?” fragte Holger, offenbar
unvermittelt aus seinen eigenen Gedanken gerissen.
„Der Satz ist ein Palindrom”,
rief Debbie, diesmal auf Deutsch. „Er liest sich vorwärts wie rückwärts
identisch.”
Sie umrundete den Altar, stellte
sich neben Holger, legte ihren Zeigefinger an das rechte Ende des Satzes und
fuhr mit dem Finger langsam die Buchstaben entlang nach links zu seinem Anfang,
wobei sie den Satz dem jeweils angezeigten Buchstaben entsprechend sprach.
Sie sah zu Holger, der apathisch
auf die Schrift vor ihm starrte. Verstand er nicht, was sie von ihm wollte?
Konnte er es einfach nicht glauben? Dachte er bereits weiter, was die Tatsache,
dass es sich um ein Palindrom handelte, bedeuten konnte? Es war nicht immer
leicht, ihn zu durchschauen.
Debbie nahm den Edding aus
Holgers Hand und schrieb den Satz mit veränderten Wortgrenzen unter das von
Holger Geschriebene:
Ingi rumimusnoc te etcon
sumi murig ni.
„Nur die Wortgrenzen sind
unterschiedlich. Die Buchstaben lesen sich vorwärts wie rückwärts gleich.”
Erwartungsvoll blickte sie erneut
zu Holger hinüber. Spätestens jetzt musste er einfach verstehen.
„Der Satz stand auf Trébors
Zunge, richtig?” fragte Holger schließlich. Offenbar hatte Debbie mit ihrer
letzten Vermutung richtig gelegen. Es hatte ihm nicht am Verständnis des
symmetrischen Charakters gemangelt, sondern er hatte vielmehr schon
weitergedacht, wie man damit arbeiten könnte.
„Richtig”, antwortete sie.
„Wie ist sein Vorname?”
„Marcel.”
Holger schrieb den Namen Marcel
Trébor auf den Altar und gleich darunter den gleichen Namen rückwärts. Was
Debbie sah, presste ihr mit einem Schlag sämtliche Luft aus ihren Lungen. Sie
hatte die Faust nicht kommen gesehen, doch jemand musste ihr in die Magengrube
geschlagen haben. Es war unmöglich, es konnte einfach nicht sein. Und doch
stand es in großen Buchstaben vor ihr, schwarz auf weißem Marmor.
Robert Lecram. Robert
L. Ecram. Bobby.
Sie hatte jeden Tag mit ihm
telefoniert. In Minneapolis. Wie konnte er an zwei Orten gleichzeitig sein? Die
Antwort war ebenso einfach wie banal: Rufumleitung. Aber die Frage der
Bilokation war nicht einmal das, was den größten Unglauben in Debbie
hervorrief.
Bobby! Der charmante junge Mann,
mit dem sie Tag für Tag zusammen gearbeitet hatte, den sie als Kollegen
geschätzt und als Freund gemocht hatte, dem sie alles über den Fall erzählt
hatte und der ihr sogar vermeintlich bei der Lösung verschiedener Fragen die
Morde betreffend geholfen hatte – Bobby sollte ein eiskalter Killer sein?
„Das – ist – un-mög-lich”,
presste sie hervor, ohne zu wissen, woher sie die Lungenluft nahm.
„Was ist unmöglich?” fragte
Holger mit leichter Verwirrung in der Stimme.
„Bobby”, quoll es aus Debbies
Mund. „Bobby kann unmöglich der Mörder sein.”
„Bobby?” fragte Holger
überrascht. „Robert Lecram ist dein Assistent Bobby?”
„Robert L. Ecram”, korrigierte
sie ihn. Sie musste sich an die Szene zurückerinnern, als sie den
vermeintlichen Mörder aus Trébors Zimmer hatten kommen sehen. Für den Bruchteil
einer Sekunde hatte Debbie geglaubt, Bobbys Statur, seinen Gang erkannt zu
haben, den Gedanken aber ob seiner Abstrusität schnell wieder weggewischt.
Hatte es sich tatsächlich um Bobby gehandelt? War es möglich?
„Es tut mir leid, Debbie”, sagte
Holger mit leiser Stimme und legte den Arm um ihre Schulter.
„I can’t fuckin’ believe
this”, erwiderte sie mit zitternder Stimme.
„Ich fürchte aber, es ist wahr.
Bobby ist der zweite Killer. Er muss die ganze Zeit hier gewesen sein.”
„Was macht dich da so sicher?”
fragte Debbie und blickte Holger an. Hatte er mit dem neugewonnen Wissen einen
weiteren Hinweis auf Bobbys Täterschaft entdeckt, den sie die ganze Zeit
übersehen hatten?
„Trébors letzte Geste ergibt
plötzlich einen Sinn”, sagte Holger. „Er hat in der Tat versucht, uns damit das
zu sagen, was zu artikulieren er nicht in der Lage war.”
„Mit seiner Verbeugung?”
„Exakt. Was will ein durch die
Hand eines anderen Sterbender vor seinem Tod noch der Welt
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