Virus (German Edition)
lateinische Sprache aus den Zeichen Gottes. Der lateinische Satz,
den Somniak uns hinterlassen hat, ist das Zeichen. Das Zeichen Gottes. Das
Zeichen, das uns sagt, wer der zweite Mörder ist. In girum imus nocte et
consumimur igni .” Eine Mischung aus Euphorie über seine Entdeckung und
Ernüchterung darüber, dass sie ihm noch immer nicht den Namen von Somniaks
Komplizen nannte, verwandelte Holgers Gefühlswelt in eine Sinuskurve.
„Aber die Bedeutung dieses Satzes
haben wir längst entschlüsselt”, sagte Debbie mit Enttäuschung in der Stimme.
Sie schien noch nicht an Holgers Entdeckung zu glauben. „Und dafür, dass unsere
Interpretation korrekt war, gibt es einen recht unumstößlichen Beweis: Ich lebe
noch.”
„Allerdings besteht die
Möglichkeit”, versuchte Holger auf seinen Punkt zu kommen, „dass wir bislang
nur die Hälfte der in dem Satz enthaltenen Bedeutungen entschlüsselt haben.
Wenn Somniak uns mit dem Satz einen Hinweis auf seinen Komplizen geben wollte,
dann wird er diesem das wohl kaum verraten haben. Bedenke: Der Komplize muss
das Tattoo gestochen haben, denn Somniak saß zu diesem Zeitpunkt in Haft.”
„Du meinst also, er hat seinem
Spannmann die Bedeutung genannt, die du heute Morgen entschlüsselt hast, um
dessen Neugier zu befriedigen”, fasste Debbie zusammen. „In Wirklichkeit aber
hat der Satz noch eine weitere Bedeutung, die uns zu eben jenem Mann führt, der
das Zeichen auf Trébors Zunge gebrannt hat.”
„Genauso ist es.” Holger blickte
sich suchend um.
„Hat irgendjemand hier einen
Edding?” rief er dann laut in das Schiff der Kirche. Eilige, hallende Schritte
in schweren Stiefeln verrieten ihm, dass einer der Soldaten sich auf die Suche
nach dem gewünschten Objekt machte.
„Im Kreise gehen wir durch die
Nacht und werden vom Feuer verschlungen”, sinnierte Debbie. „Wie soll uns das
sagen, wer der zweite Mörder ist?”
„Du machst den gleichen Fehler,
den ich schon beim ersten Versuch gemacht habe”, sagte Holger.
„Und der wäre?”
„Du übersetzt den Satz. Somniak
sprach aber von den Zeichen Gottes. Also von der lateinischen Sprache.”
„Aber ist die Bedeutung nicht in
beiden Sprachen die gleiche?” fragte Debbie verwirrt. „Oder ist die Übersetzung
nicht akkurat?”
„Die Übersetzung ist akkurat”,
erwiderte Holger. „Doch die Übersetzung ist, wenn du so willst, das Bezeichnete,
der Inhalt. De Saussure spaltete das sprachliche Zeichen in zwei Teile – signifiant und signifié , das Bezeichnende und das Bezeichnete. Der Satz selber
ist das signifiant , seine Bedeutung das signifié . Die erste
Aussage, die Somniak mit diesem Satz getroffen hat, bezog sich auf seine Bedeutung.
Wir haben sie heute Morgen entschlüsselt.”
„ Du hast sie entschlüsselt”,
warf Debbie ein.
„Wie auch immer. Die zweite
Aussage jedenfalls wird sich auf den Satz selber beziehen, auf das signifié ,
die Zeichen Gottes, die lateinische Sprache.”
„Aber inwiefern?”
„Keine Ahnung.” Holger zuckte mit
den Achseln. In dem Moment trat ein Bundeswehrsoldat mit einem dicken schwarzen
Edding an ihn heran. Holger bedankte sich, nahm den Stift und ging hinter den
Altar. Er musste den Satz vor sich sehen, vielleicht würde die optische
Perzeption eine Assoziation hervorrufen oder einen Gedanken anstoßen.
Er räumte die beiden goldenen
Kerzenständer, die auf dem Opfertisch standen, beiseite und schrieb in großen
Lettern den Satz quer über die gesamte Länge der weißen Marmor-Platte. Erstens
war eine solche leicht zu ersetzen, zweitens glaubte Holger nicht an Gott und
somit auch nicht an die Sündhaftigkeit der Schändung ihm geweihter Objekte, und
drittens hatten sie verdammt nochmal einen Mörder zu fassen.
In girum imus nocte et
consumimur igni.
Was konnte dieses Zeichen
bedeuten? Holger stützte seine Hände auf den kalten Stein und grübelte. Nicht
die Bedeutung des Satzes, sondern seine Gesamtheit war das Zeichen. Aber was
sagte es aus?
–––––
Debbie sah leicht indigniert zu,
wie Holger das heilige Möbel beschmierte. Was hatte er vor? Zögernd folgte sie
ihm und trat an den Altar. Holger hatte den Satz, den lateinischen Satz, den
der Mörder auf Trébors Zunge tätowiert hatte, auf den weißen Marmor
geschrieben.
Er stand hinter dem Opfertisch,
so dass die Buchstaben für Debbie, als sie sich ihm näherte, auf dem Kopf
standen. Es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis sie das Rätsel gelöst hatte.
Einem Automatismus folgend hatte
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