Virus (German Edition)
unzählige mögliche
Antworten auf alle Fragen. Und alle schwirrten gleichzeitig durch seine
Gedankenwelt.
Das Erste, was Passe von seiner
Umwelt wieder wahrnahm, war, dass jemand seinen Rücken streichelte. Langsam
drehte er den Kopf. Dora saß neben ihm. Seit wann? Seit einer Minute? Seit
einer halben Stunde? Noch mehr Fragen. Er hatte sie einfach nicht bemerkt.
„Wie geht es dir?” fragte sie mit
sanfter Stimme. Passe liebte ihren italienischen Akzent.
„Du hast mir nie erzählt, dass du
Karate kannst”, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
„Ich kann kein Karate”,
antwortete sie leise und mit ruhiger Intonation.
„Oder welche Kampfsportart auch
immer.” Enttäuschung über ihre Unehrlichkeit lag in seinen Worten.
„Ich kann überhaupt keinen
Kampfsport. Ich habe nur gesehen, wie der Polizist auf dich eingeprügelt hat.
Da habe ich Anlauf genommen und bin ihm in den Rücken gesprungen. Ich habe
nicht lange überlegt.”
Passe dachte kurz darüber nach.
Konnte jemand ohne Kampfsporterfahrung einen solchen Sprungkick überhaupt ansetzen?
Geschweige denn mit der Kraft, den Polizisten wirklich umzustoßen und – wenn
auch nur für Sekunden – außer Gefecht zu setzen? Andererseits war es kein Kick
in dem Sinne gewesen, sondern sie war einfach mit beiden Beinen voraus in den
Polizisten gesprungen. Er beschloss, das Thema fürs Erste ruhen zu lassen.
„Warum warst du maskiert?” fragte
er stattdessen.
„Weil ich keine Lust hatte, wegen
euch Spinnern in irgendwelchen Nachrichtensendungen zu sein.” Es klang nahezu
liebevoll, wie sie es sagte, und ihr wunderschöner, weicher Akzent verstärkte
diesen Eindruck noch. Sie war sichtlich nicht auf Konfrontation aus, sondern
auf Frieden. Passe wusste, dass er gut daran täte, das Angebot anzunehmen.
„Da hätte man höchstens gesehen,
dass du keinen Stein wirfst”, gab er kleinlaut zu bedenken.
„Es geht mir nicht um den
deutschen Gesetzgeber. Es geht mir um meine Familie in Siena. Sie würden
umkommen vor Sorge, wenn die auch nur wüssten, dass ich hier bin.”
Das machte Sinn. Er schwieg eine
Weile.
„Aber wieso hattest du überhaupt
was zum Vermummen dabei? Ich habe nicht daran gedacht”, sagte er schließlich.
„Ich hatte den Schal zufällig an,
weil ich heute Morgen etwas Halsschmerzen hatte nach dem Aufwachen”, antwortete
sie und lächelnd fügte sie an: „Ist doch auch kein Wunder bei dem Wetter hier.”
Passe liebte ihr Lächeln. Er
liebte alles an ihr. Die dunkelbraunen, kurzen Haare, die in alle Richtungen
abstanden, die dunklen Augen, den schmalen, etwas traurigen Mund, die zierliche
Figur.
Er liebte sie. Und er glaubte
ihr. Es passte alles zusammen. Sie hatte einen Schal getragen, weil sie
Halsschmerzen gehabt hatte. Sie hatte ihr Gesicht damit verborgen, um ihre
Familie nicht zu beunruhigen. Und sie konnte kein Karate, sondern hatte einfach
spontan die Bewegung durchgeführt, von der sie sich die größte Wirkung
erhoffte.
Alles klang logisch, alles passte
zusammen. Und eigentlich hätte er froh sein müssen, dass sie ihm dieses Friedensangebot
unterbreitete, besonders wenn man in Betracht zog, wie wütend sie noch vor
wenigen Stunden auf seine ersten Steinwürfe reagiert hatte.
Und doch hatte Passe das Gefühl,
Dora verberge etwas vor ihm. Er konnte es nicht erklären. Es war nur so ein
Gefühl. Er legte den Kopf zurück auf seine Schulter und versank erneut in
seinen Gedanken.
15.
Es klopfte an der Tür und nach
kurzem Warten auf eine Aufforderung betrat der Brandursachenermittler der
Feuerwehr Wegmanns Büro. Wegmann begrüßte ihn in dem sicheren Glauben, dem
Abschluss des Falls damit ein gutes Stück näher zu kommen, herzlich. Der Mann
war klein und dick und trug einen Schnäuzer mit gezwirbelten Enden in seinem fröhlichen,
runden Gesicht. Er stellte sich unter dem Namen Löscher vor und machte dazu den
gleichen Feuerwehr bezogenen Witz, den er wahrscheinlich jedes Mal machte, wenn
er sich vorstellte.
Eine echte Frohnatur, schoss es Wegmann durch
den Kopf, doch im Prinzip war ihm das egal. Lediglich die Ergebnisse, die
Löscher zu präsentieren hatte, waren von Interesse.
Wegmann goss dem Mann ein Glas
Wasser ein und wurde alsdann ernst. Immerhin war die Stunde fortgeschritten und
er wollte nach Hause zu seiner Familie.
„Was haben Sie herausgefunden?”
beendete er den small talk und ging zum Dienstlichen über.
„Leider nichts”, antwortete
Löscher. „Ich weiß, ich hätte Ihnen das auch
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