Virus (German Edition)
sie, enttäuscht über Holgers Zweifel.
„Ich weiß es nicht”,
antwortete er. „Es gibt zahllose Möglichkeiten. Warum nicht wirklich eine
Autobahn? Oder eine Schließfachnummer. Der Mörder hat sein flammendes Pamphlet
in einem Schließfach deponiert und möchte, dass wir es finden. Vielleicht
handelt es sich aber vielmehr um einen Serienkiller, der seine Opfer
durchnummeriert. Oder er sucht über Chiffre A87 eine Serienkillerfreundin. Auch
möglich wäre, dass der Mörder einfach nur ein Bami Goreng süß-sauer bestellen
wollte. Immerhin war Meng Hong Chinese.”
Debbie starrte ihn
fassungslos und mit stechendem Blick an. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.
„Warst du schon immer
so oder wann bist du so geworden?” fragte sie nach einer ganzen Weile mit vor
Zorn zitternder Stimme.
„Was? Ein exzellenter
Freizeitkriminalist?” fragte er zurück.
„Nein, ein Arschloch!”
Damit stand sie auf und ging.
Draußen musste sie
erst ein paarmal tief durchatmen. Wie konnte ein Mensch innerhalb weniger
Sekunden zwei so verschiedene Gesichter zeigen?
Im einen Moment war
er noch der nahezu sympathische, aus unbekanntem Grund gebrochen wirkende Mann
gewesen, der zwar einen Schutzwall aus gespielter Gleichgültigkeit um sich
aufgebaut hatte, aber doch interessiert und hilfsbereit gewirkt und sie sogar
zum Essen eingeladen hatte. Und im nächsten Moment hatte er sich in den geschmacklosesten
Zyniker, den die Welt je gesehen hatte, verwandelt.
Und ihm hatte sie sie
ihre Theorien anvertraut! Fuckin’ asshole!
Tränen rannen ihre
Wangen herab, als sie sich langsamen Schritts auf den Heimweg machte.
Sie war wieder
allein.
–––––
Holger leerte sein
Pils und bestellte ein neues. Er wusste, dass er zu weit gegangen war. Der
Punkt, den er hatte machen wollen, war richtig gewesen – nicht allerdings die
Art und Weise, auf die er ihn vermittelt hatte. Er hatte Debbie klarmachen
wollen, dass der Schriftzug viele verschiedene Bedeutungen haben konnte, und
dass es nicht sinnvoll war, sich zu früh auf eine Interpretation festzulegen. Zu
dieser Grundaussage stand er.
Doch das Beispiel der
Essensbestellung beim Chinaimbiss war geschmacklos gewesen, und Holger wusste
es. Besonders, wenn man Debbies schwierige Situation und ihre augenblickliche
Verletzlichkeit in Betracht zog.
Es war also erneut
passiert. Wieder einmal war es ihm aufgrund eines schlecht gewählten Beispiels
nicht gelungen, ein korrektes Argument zu vermitteln. Ebenso wie damals, als er
Nietzsches ‚Antichristen’ in seiner Predigt zitiert hatte. Wieso passierte ihm
das immer wieder?
Die Antwort hierauf
war nicht schwer zu finden. Weil er gleichgültig war. Weil die Gefühle anderer
ihn nicht interessierten, hatte er seine Sensibilität dafür verloren, wann er
sie womöglich verletzte.
Zweifelte er jetzt
etwa sogar an seiner Welt der Gleichgültigkeit? Früher am Abend war ihr bereits
ihr Hauptquartier entzogen worden und nun stellte er sie sogar in Frage. Er
durfte das nicht zulassen. Er musste diese Welt schützen, denn sie beschützte
ihn.
Und er würde sofort
damit beginnen, diese Welt zu schützen, indem er Debbie nicht hinterher ging,
um sich zu entschuldigen. Er befand für sich, dass sie ihm gleichgültig war.
17.
Wegmann flucht leise
in sich hinein, als er seinen Computer herunterfuhr. Er guckte auf die Uhr.
Fast halb zehn. Trotzdem war er froh, dass er auf Löscher gewartet hatte und
dass dieser persönlich vorbeigeschaut hatte. Hätte er einfach nur am Telefon –
oder noch schlimmer, per Email – durchgegeben, dass kein Blitz gemessen wurde,
der in Frage kam, den Professor getötet zu haben, hätte Wegmann kaum die
Möglichkeit gehabt, Einfluss auf ihn auszuüben.
So hatte die Sache
gerade noch einen glimpflichen Ausgang genommen. Wegmann dachte daran zurück,
wie viel Mühe er schon gehabt hatte, den Notarzt von der Bescheinigung des
natürlichen Todes zu überzeugen, und er fragte sich, wieso einige Menschen
stets darauf bedacht waren, Probleme zu generieren, wo gar keine waren.
Mit manchen Leuten
musste man eben Klartext reden. Das hatte Wegmann in seinen vielen Dienstjahren
gelernt. Er dachte daran zurück, wie blauäugig er gewesen war, als er sich für
den Beruf des Polizisten entschieden hatte. Damals hatte er gedacht, die Welt
verbessern zu können. Er hatte seinen kleinen Beitrag dazu leisten und
Kriminalität bekämpfen wollen. Vielleicht nur im wirklich kleinen Rahmen.
Vielleicht würden es an einigen Tagen nur
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