Virus (German Edition)
Untersuchung
fällt aber natürlich schwer, wenn die Zeugenaussagen nicht einmal korrekt
protokolliert werden.”
„Die Einheitlichkeit
der Aussagen, die wir im Kongresszentrum aufgenommen haben, dürfte auf ein
psychologisches Massenphänomen zurückzuführen sein, das…” begann Wegmann, doch
Bruncke schnitt ihm erneut das Wort ab.
„Herr Wegmann, ich
habe das Gefühl, sie machen es sich viel zu leicht.” Sein Tonfall war
schneidend. „Zu dem seltsamen Ton haben Sie sich auch noch nicht geäußert.
Wahrscheinlich tun Sie den auch als psychologisches Massenphänomen ab?”
Die Frage war fast
rhetorisch gestellt. Bruncke blickte Wegmann durchdringend an. Dieser
antwortete nicht, doch er wusste, dass sein Blick als Antwort mehr als
ausreichte.
„Das BKA ist hier für
die Sicherheit der Regierungschefs verantwortlich”, fuhr Bruncke ernst fort.
„Und um die Sicherheit garantieren zu können, müssen Sie Ihre Arbeit machen,
Herr Wegmann. Gibt es schon Ergebnisse von der Obduktion?”
Wegmann zuckte
zusammen. Wusste Bruncke, dass es keine Obduktion gab? Wusste er womöglich
sogar, auf welche Weise Wegmann das verhindert hatte? Hatte das BKA mit dem
Notarzt gesprochen? Was wusste das BKA über seine Arbeitsmethoden?
„Es gibt noch keine
Ergebnisse. Wir hoffen, morgen früh etwas zu hören.” Wegmann versuchte seiner
Stimme so viel Sicherheit und Selbstbewusstsein wie nur möglich zu verleihen.
„Sie sorgen dafür,
dass die Medien keinen Wind von der Sache kriegen?” fragte Bruncke.
„Selbstverständlich”,
antwortete Wegmann etwas zu hastig.
Bruncke erhob sich.
„Machen Sie Ihren Job, Herr Wegmann.”
Wegmann hasste die
Höflichkeit, mit der Bruncke ihn immer noch adressierte. Dieser Mann ließ sich
nicht einmal herab, ihn einfach nur mit ‚Wegmann’ anzusprechen. Er nutzte
Höflichkeit als Demonstration seiner Überlegenheit. „Ich erwarte morgen Ihren
Bericht”, fuhr Bruncke fort. „Sie sind persönlich verantwortlich. Machen Sie
Ihre Arbeit schlecht, so werde ich Sie degradieren und versetzen. Stellt sich
heraus, dass Sie aus Faulheit bewusst die Ermittlungen nicht vorantreiben, so
werde ich dafür sorgen, dass Sie nicht nur Ihren Job, sondern auch Ihren Beamtenstatus
verlieren.” Bruncke hielt inne und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch
einmal um. „Ich nehme an, Sie wissen, was das für Ihren Rentenanspruch bedeuten
würde, Herr Wegmann. Guten Abend.”
Damit verließ er das
Büro.
Ungläubig starrte
Wegmann ihm nach, als dieser die Tür von außen schloss. Was war hier bitteschön
gerade passiert? Er hatte doch alles im Griff gehabt. Es hatte sogar so
ausgesehen, als würden die nächsten Tage wieder ein wenig ruhiger werden, und
plötzlich lief er sogar Gefahr, seinen Beamtenstatus zu verlieren?
Was konnte er denn
noch mehr tun, als auf die Gutachten der Sachverständigen zu warten? Sollte er
tatsächlich Hirngespinsten unter Schock stehender Zeugen hinterherjagen?
Er starrte ganze fünf
Minuten lang ins Leere und versuchte, zu begreifen, was schief gelaufen war.
Dann griff er nach dem Telefon. Er musste einen Rechtsmediziner finden, der
noch über Nacht die Leiche zu obduzieren bereit war.
18.
Passe konnte nicht
schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Er hatte
noch lange mit Dora gesprochen, ihr aber kein Geheimnis entlocken können.
Vielleicht hatte sie ja gar keins. Er hatte sie nicht mehr direkt auf ihren
Sprungkick oder die Vermummung angesprochen. Sie hatte es ihm erklärt und er
hätte sie beleidigt, wenn er nachgehakt hätte. Italiener waren stolz.
Doch er hatte
versucht, die Themen so zu wählen, dass sie, ohne es zu merken, etwas von sich
preisgeben würde. Er hatte in den anderthalb Jahren, die sie nun zusammen
waren, nicht so viel über seine Freundin erfahren, wie an diesem einen Abend.
Jedes Mal, wenn er daran dachte, wie Dora dem Polizisten in den Rücken
gesprungen war, hatte er das Gefühl, seine Freundin überhaupt nicht zu kennen.
Er wollte das ändern.
Nie zuvor war er ein
so guter Zuhörer gewesen. Sie hatte ihm von ihrer Kindheit in Siena erzählt.
Von ihren Eltern, deren kleiner Lebensmittelladen pleiteging, als eine große
Kette eine Filiale ganz in der Nähe eröffnete. Von ihrem Hass auf Kapitalismus,
Ausbeutung, Unterdrückung und Neoliberalismus. Von ihrem ersten Freund, der sie
mit auf Demonstrationen genommen hatte.
Und davon, was sie
empfunden hatte, als sie Passe zum ersten Mal gesehen hatte.
Passe hatte
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