Virus (German Edition)
gehört habe. Nach kurzer Diskussion
einigten die beiden sich darauf, dass es sich nur um das Nebelhorn eines weit
entfernten Schiffs gehandelt haben konnte. Die Entfernung musste immens sein,
denn sonst hätte das Radar das Schiff erfasst. Zudem war die Distanz wahrscheinlich
dafür verantwortlich, dass das Nebelhorn so seltsam geklungen hatte.
Meller verließ den
Kontrollraum wieder, während Aurich auf seinem Stuhl vor dem Hauptmonitor Platz
nahm, um zu seinen Depressionen zurückzukehren.
20.
Thomas Heinze hatte
etwas länger gebraucht als normalerweise, bis er seinen Rhythmus gefunden
hatte. Er war zwar ein erfahrener Läufer und lief jeden Morgen zwölf Kilometer
durch den Berliner Tiergarten, bevor er sich auf den Weg ins Kanzleramt machte,
doch Strandläufe waren etwas anderes. Das Einsinken in den Sand, das Nachgeben
bei jedem Schritt kostete weit mehr Kraft als das Laufen auf den federnden
Waldwegen und Wiesen im Herzen Berlins, doch das nahm er gerne in Kauf. Wie oft
kam man als Berliner schon in den Genuss, durch das wunderschöne Dünenpanorama
der Ostseeküste zu joggen.
Er war den Lauf etwas
zu schnell angegangen, hatte gemerkt, wie er in den anaeroben Bereich gedriftet
war, hatte sein Tempo reduziert und seinen Rhythmus schließlich gefunden.
Das Wetter war besser
als am Vortag. Noch immer war der Himmel wolkenverhangen, doch es hatte
aufgehört zu regnen und es sah im Moment nicht danach aus, als würde es wieder
anfangen. Die Wolkendecke war zwar dicht, aber nicht dunkel. Doch Heinze wusste
auch, dass sich das an der Ostsee schnell ändern konnte. Auch der Wind hatte
sich beruhigt und der Wellengang war gering. Heinze mochte das sanfte Rauschen
des Meeres.
Freunde, die wussten,
dass er jeden Morgen laufen ging, hatten ihm vor einigen Jahren einen iPod
geschenkt, doch er hatte ihn bislang nicht einmal benutzt. Ablenkung konnte er
während seiner Läufe nicht gebrauchen, denn er nutzte sie zur bewussten
Strukturierung seiner Gedanken.
Während der ersten
Hälfte eines jeden Laufs arbeitete er gedanklich ab, was ihn beschäftigte. Was
auch immer seine Gedanken blockierte, seien es private Probleme, Freuden oder
Hoffnungen, berufliche Schwierigkeiten oder Chancen oder einfach das letzte
Spiel der Hertha – er reflektierte darüber, bis er sich sicher sein konnte,
dass er diese Themen für den Rest des Tages aus seinem Kopf verbannt hatte. Auf
diese Weise würde er sich später viel besser auf seine Arbeit konzentrieren
können. Künstler nutzten diesen Trick häufig, um einen ungestörteren Zugang zu
ihrer Kreativität zu finden, und er hatte ihn sich einfach abgeguckt.
Die zweite Hälfte
eines jeden Laufs nutzte Heinze stets, um den Tag gedanklich zu planen. Er war
äußerst akribisch hierin. Nicht nur ging er sämtliche Termine durch, um seinen
Zeitplan zu strukturieren, auch legte er sich bereits zurecht, was er in
bestimmten Situationen würde sagen können, formulierte den Wortlaut einzelner
Aussagen gedanklich vor, antizipierte die Reaktionen seiner Gesprächspartner
oder übte gelegentlich sogar bestimmte Tonfälle, um trotz seiner Vorbereitung noch
spontan wirken zu können.
Wenn Thomas Heinze
vom Joggen nach Hause kam, war sein Kopf frei von ablenkenden Gedanken, sein
Tag war minutiös geplant, sein Kreislauf war in Schwung und sein Stoffwechsel
hatte begonnen, Energie für den Tag zu produzieren. Anschließend nahm er eine
kurze Dusche, frühstückte Müsli und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Heinze war ein
gutaussehender Mann. Er war fast eins neunzig groß, hatte eine sportliche
Figur, ein intelligentes Gesicht und kurze hellbraune Haare, die er im
trendigen Wet-Look trug. Für einen politischen Berater war er mit seinen
achtunddreißig Jahren noch relativ jung, doch durch sein gepflegtes Äußeres,
seine perfekten Umgangsformen und vor allem durch seine bestechende Intelligenz
hatte er schnell die Gunst der Kanzlerin erworben und war zu einem ihrer
engsten Vertrauten geworden.
Es war kurz nach
Sonnenaufgang und mit Ausnahme vereinzelter, müde wirkender Polizeipatrouillen
hatte er den Strand für sich alleine. Er liebte das. Und jetzt besonders, denn
es gab viel, was ihn gedanklich beschäftigte. Er betrachtete den Gipfel als
seinen Gipfel und seine Chance, ganz nach oben zu kommen. Schließlich war er
studierter Virologe und somit im Beraterteam der Kanzlerin die größte
Kompetenz, was das Hauptthema des Gipfels anging. Natürlich kamen wie immer
auch Armutsbekämpfung,
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