Virus (German Edition)
Adrenalin schoss in seine Adern. War es das, was er glaubte?
Er atmete ein paar Mal
tief durch, fasste sich ein Herz und lief in deutlich langsameren,
vorsichtigeren Schritten als zuvor zu der Stelle. Trotz der tiefstehenden Sonne
in seinem Gesicht, verwandelte sich seine Vermutung bereits, als er noch zehn
Meter von dem angespülten Objekt entfernt war, in Gewissheit.
Es handelte sich um
einen menschlichen Körper.
21.
Irgendwann spät in
der Nacht hatte Wegmann doch noch Schlaf gefunden, wenn auch keinen besonders
ruhigen. Wilde Träume hatten ihn aufgewühlt, und er hätte noch gut und gerne
drei Stunden Schlaf benötigt, als ihn um kurz nach sechs ein Anruf seiner
Dienststelle weckte.
Eine gute halbe
Stunde später stand er frierend am Strand von Petersdamm, wo bereits unzählige
Spurensicherer in weißen Einweg-Overalls herum wuselten. Wegmann hielt einen
verschließbaren, isolierten Kaffeebecher in der Hand und wurde von seinem
Kollegen Lars Metzger auf den Stand der noch überaus jungen Ermittlungen
gebracht.
Es handelte sich bei
der Leiche um eine Frau, wahrscheinlich etwa Mitte vierzig. Die Leiche war noch
nicht identifiziert, doch man war die Fotos derer durchgegangen, die über ein
Zugangsrecht zum eingezäunten Bereich verfügten, und konnte, obwohl die Leiche
stark aufgeschwemmt war, signifikante Ähnlichkeit mit der britischen
Epidemiologin Samantha Dickinson feststellen. In eben diesem Moment versuchten
Kollegen, dieselbe in ihrem Hotel ausfindig zu machen.
Aufgefunden worden
war die Leiche von einem Berater der Kanzlerin, der zum Joggen an den Strand gekommen
war. Die Tatsache, dass die Patrouillen der Polizei sie vorher nicht
wahrgenommen hatten, konnte darauf hinweisen, dass die Leiche erst kurz vor
ihrer Entdeckung angespült worden war. Allerdings konnte sie auch darauf hindeuten,
dass die Polizeipatrouillen ihrer Aufgabe nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit
nachgingen.
Die bislang größte
Auffälligkeit bestand darin, dass die Leiche komplett entkleidet war. Offenbar
musste die Frau sich ziemlich sicher gewesen sein, niemanden anzutreffen, als
sie zu ihrem Frühsport in der Ostsee aufgebrochen war. Dies warf erneut kein
allzu gutes Licht auf die Präsenz der Patrouillen. Allerdings hatten die
Beamten bislang auch nirgendwo am Strand irgendwelche Kleider gefunden. Da es
als eher unwahrscheinlich einzustufen war, dass die Frau völlig nackt von ihrem
Hotel zum Strand gelaufen war, konnte man das Fehlen von Kleidung als durchaus
rätselhaft auslegen.
Der Rechtsmediziner traf
ein, sichtlich unerfreut über die frühe Stunde. Beruhigt stellte Wegmann fest,
dass es ein anderer war als der, den er in der letzten Nacht mit üblen Drohungen
dazu gebracht hatte, Meng Hongs Leichnam zu unchristlicher Stunde noch zu obduzieren.
Die Zusammenarbeit hätte womöglich einer gewissen Ungezwungenheit entbehrt.
Dieser Mann hieß Dr. Tremmel, war Anfang fünfzig, hatte schütteres graues Haar,
eine Brille und war lang und schlaksig. Wegmann gab ihm gähnend weiter, was er
soeben von Lars erfahren hatte, und Dr. Tremmel machte sich ohne weiteren
Verzug an die Untersuchung der Leiche.
Wegmann starrte in
den wolkenverhangenen Himmel und ahnte, dass dies nicht sein Tag werden würde. Ein
kalter Wind kam auf und seine Schuhe waren bereits jetzt voll mit nassem Sand.
Noch immer hallten Brunckes Worte der letzten Nacht in seinem Kopf wider. Er
durfte keinen Fehler machen. Alles deutete auf einen Schwimmunfall einer
Unvernünftigen hin, doch er würde den Fall gründlich untersuchen müssen. Wo
waren die Kleider? Wegmann hasste Ungereimtheiten, und in diesem Moment, nur
eine halbe Minute, nachdem er begonnen hatte, sich mit der Leiche zu
beschäftigen, gab Dr. Tremmel einen Laut von sich, der auf eine weitere
hinzudeuten schien.
„Was gibt es denn,
Doktor?” erkundigte sich Wegmann.
„Ich glaube nicht,
dass diese Frau freiwillig schwimmen gegangen ist”, erwiderte dieser.
„Was meinen Sie
damit? Woran wollen Sie das bitteschön festmachen?” fragte Wegmann. Mord? Unmöglich.
Die Polizeipatrouillen hätten einen Kampf wahrgenommen und im Sand hätte man
Spuren davon finden müssen.
„Im Moment kann ich nur
ganz grob schätzen, für Genaueres muss ich obduzieren. Aber wenn ich die Aufgedunsenheit
des Leichnams und die Textur der Haut betrachte, würde ich auf den ersten Blick
sagen, dass diese Frau seit mindestens drei Stunden im Wasser gewesen sein
muss. Sie wurde um kurz nach sechs gefunden.” Er
Weitere Kostenlose Bücher