Virus (German Edition)
gehabt, sie aus ihrer Trance zu reißen? Sie
blickte sich um. Ihre Sinne waren nun so aufmerksam, dass sie alles mit
doppelter Intensität wahrnahm. Die Geräusche, die vor wenigen Sekunden nicht
vorhanden gewesen zu sein schienen, trafen nun mit Verspätung ein und mischten
sich mit den Geräuschen der Gegenwart. Das Blau des Teppichs, sonst beruhigend,
schien nun grell zu leuchten und die Politur des dunklen Holzes der Rezeption
reflektierte alles Licht dieser Welt.
Was hatte sie
gesehen? Was hatte sie gestört? Ein Mann erkundigte sich an der Rezeption nach
der Wettervorhersage, eine Reinigungskraft leerte einen Abfalleimer, in einer
Sitzecke saß eine Frau, die Debbie vage bekannt vorkam, und arbeitete an ihrem
Laptop, während ein Kellner eine Tasse Kaffee vor ihr abstellte. In einer
zweiten Sofaecke saß ein Mann und las Zeitung. Das war eigentlich alles, was
hier passierte. Was hatte Debbie wahrgenommen? Das Gesicht des Mannes konnte sie
nicht erkennen, weil es hinter der Zeitung versteckt war.
Und dann traf es
Debbie. Die Zeitung. Vom Titelblatt aus sprang ihr das Foto vom Tod des
Professors entgegen. Aber viel mehr noch, sah man im Hintergrund ganz sauber
den Schriftzug, dessen Existenz die Polizei so energisch geleugnet hatte. Das
war ihr Beweis. Jetzt würde Wegmann ihr antworten müssen.
Sie ging zu dem Mann,
entriss ihm die Zeitung, murmelte eine Entschuldigung, schnippte ihm einen Euro
zu und hatte die Lobby verlassen, lange ehe er aus seiner Verblüffung erwacht
war.
Eine halbe Stunde
später hielt ihr Taxi vor der Polizeidirektion in Rostock. Beziehungsweise vor
der Absperrung. Eine Unmenge an Reportern, unschwer an ihren Foto- und
Filmkameras und ihren Mikrophonen zu erkennen, hatte sich hier versammelt. Gut
so! Das würde die Polizei unter Druck setzen.
Debbie bezahlte den
Taxifahrer, gab für deutsche Verhältnisse wie immer zu viel Trinkgeld, stieg
aus und begann, sich durch die Reporterschar zu kämpfen, die BILD-Zeitung, die
sie dem Mann in der Lobby entrissen hatte, noch immer wie den Schlüssel zu
einem Schatz fest umklammert.
Als sie etwa den
halbem Weg durch die Menschenmenge zum Eingang des Gebäudes zurückgelegt hatte,
ging plötzlich ein aufgeregtes Raunen durch die Massen. Sie blickte auf und sah
etwas erhöht auf dem kleinen Treppchen vor dem Eingang Kommissar Wegmann, der
gemeinsam mit einem Kollegen versuchte, das Gebäude zu verlassen.
Toll. Von tausend Reportern
bedrängt würde sie nie und nimmer eine Chance haben, an ihn ranzukommen, ihm
die Zeitung unter die Nase zu halten, ihn zu fragen, ob er die Existenz der
Schrift immer noch leugne. Sie hatte gehofft, in seinem Büro unter vier Augen
mit ihm sprechen zu können. Hier in diesem Mob erschien es ihr aussichtslos.
Reporter waren rücksichtsloser und erfahrener darin, sich vorzudrängeln. Wie
zum Beweis trat ihr in diesem Moment jemand auf den Fuß und ein rasender
Schmerz durchzuckte ihren Zeh. Konnten diese Idioten denn nicht sehen, dass sie
nur Flip-Flops trug?
Sie brauchte einen
Plan. Sie war vielleicht nicht so dreist wie diese Reporter und verfügte nicht
über deren Ellbogenmentalität, aber sie war immerhin Wissenschaftlerin.
Intellektuell würde es wahrscheinlich kaum jemand hier mit ihr aufnehmen
können. Debbie analysierte die Situation schnell und simpel. Alle Reporter
drängten zu Wegmann, dorthin, wo er sich gerade befand. Doch Wegmann würde sich
natürlich bewegen. Und zwar von A nach B. Wenn Debbie nur herausfand, wo Punkt
B lag, dann konnte sie dort auf ihn warten und hätte den Reportern somit etwas
voraus.
Herausfinden konnte
Debbie Wegmanns Ziel natürlich in der Kürze der Zeit nicht, aber sie konnte
zumindest eine Vermutung abgeben. Sie entschied sich für sein Auto. Im Rücken
der Reporter und unbedrängt ging sie zu den geparkten Autos. Sie hatte Glück.
Jeder einzelne Parkplatz war namentlich markiert. Sie fand Wegmanns Nische und
stellte sich genau vor die Fahrertür des blauen Passat Kombis, der darauf
stand. Wenn er in sein Auto wollte, würde er an ihr vorbei müssen.
Gespannt blickte Debbie
auf die Menschentraube, die sich langsam aber stetig auf sie zu bewegte. Sie
schien mit ihrer Vermutung richtig zu liegen. Wegmann wollte zu seinem Auto.
Der Lärm, den die Reporter machten, war unbeschreiblich. Fragen und
Anschuldigungen wurden wild durcheinander geschrien, jeder wollte gleichzeitig
etwas vom Kommissar wissen. Debbie konnte seine Reaktionen nicht hören, doch
sie war sich sicher, er
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