Virus
Mitte Zwanzig. Ihre Wangen waren mit Wimperntusche beschmiert; man konnte sehen, daß sie geweint hatte. Aber sie war nicht nur traurig und betroffen – sie war auch verstört.
»Mrs. Zabriski ist krank«, platzte sie heraus, sobald Marissa sich vorgestellt hatte. »Ich habe gerade vorhin mit ihr gesprochen. Sie ist unten auf der Notaufnahmestation, aber man wird sie im Krankenhaus behalten. Man nimmt an, daß sie das gleiche hat wie ihr Mann. Mein Gott, kann ich das auch kriegen? Was für Symptome treten da auf?«
Mit einiger Mühe gelang es Marissa, die junge Frau zu beruhigen mit dem Hinweis, daß beim Auftreten der Krankheit in Los Angeles die Sekretärin des betroffenen Arztes keineswegs angesteckt worden war.
»Ich hau’ jedenfalls hier ab«, sagte Judith. Sie öffnete ein Seitenfach ihres Schreibtischs, nahm einen Pullover heraus und stopfte ihn in eine Pappschachtel. Offensichtlich war sie gerade am Packen. »Und ich bin nicht die einzige, dieschleunigst gehen will!« setzte sie hinzu. »Ich habe mit einigen vom Personal gesprochen, und die wollen auch verschwinden.«
»Ich kann mir ja gut vorstellen, wie Sie sich fühlen«, sagte Marissa. Sie fragte sich, ob man wohl das gesamte Krankenhaus unter Quarantäne werde stellen müssen. An der Richter-Klinik war das ein Alptraum für die Organisation gewesen.
»Ich bin eigentlich gekommen, um Sie etwas zu fragen«, sagte Marissa.
»Dann fragen Sie«, sagte Judith und fuhr fort, ihren Schreibtisch auszuräumen.
»Dr. Zabriski hatte ein paar Hautabschürfungen und eine Platzwunde am Kopf, so als ob er gestürzt sei. Wissen Sie etwas darüber?«
»Das war nichts«, sagte Judith mit einer verabschiedenden Handbewegung. »Er wurde vor etwa einer Woche in einer Einkaufspassage überfallen, als er seiner Frau ein Geburtstagsgeschenk kaufen wollte. Er wurde seine Brieftasche und seine goldene Armbanduhr dabei los. Ich denke, daß er einen Hieb auf den Kopf erhielt.«
Damit wären also auch die rätselhaften Verletzungen geklärt, dachte Marissa. Ein paar Minuten lang schaute sie Judith noch zu, wie die ihre Sachen in die Schachtel warf, und überlegte dabei, ob ihr noch weitere Fragen einfielen. Sie kam aber auf keine mehr, und so verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zur Isolationsstation. In mancher Hinsicht fühlte sie sich ähnlich verstört wie Judith.
Auf der Isolierstation war die vorher herrschende Ruhe verschwunden. Durch die Neuzugänge war sie vollgestopft mit überlasteten Krankenschwestern. Sie fand dort Dr. Layne, der in verschiedenen Krankenblättern Eintragungen machte.
»Willkommen im Tollhaus!« sagte er. »Wir haben fünf Neuzugänge, darunter Mrs. Zabriski.«
»Ja, ich habe schon davon gehört«, sagte Marissa undnahm neben Dr. Layne Platz. Wenn nur Dubchek sie auch so behandeln würde wie er: als Kollegin.
»Tad Schockley rief vorhin an – es ist Ebola!«
Ein Schauer lief Marissa den Rücken hinunter.
»Wir erwarten den staatlichen Gesundheitsbeauftragten jede Minute, um die Quarantäne zu verkünden!« fuhr Dr. Layne fort. »Es sieht so aus, als ob einige vom Personal die Stellung räumten: Krankenschwestern, Techniker und Pfleger, sogar ein paar Ärzte. Dr. Taboso hatte verdammt Mühe, diese Isolierstation hier zu besetzen. Haben Sie schon die örtliche Zeitung gelesen?«
Marissa schüttelte verneinend den Kopf. Sie war in Versuchung zu sagen, daß auch sie nicht bleiben wolle, wenn das mögliche Ansteckung bedeuten würde.
»Die Schlagzeile lautet: ›Die Seuche ist wieder da!‹« Dr. Layne verzog angewidert das Gesicht. »Die Medien können so verdammt verantwortungslos sein. Dubchek möchte, daß niemand mit irgendwelchen Presseleuten spricht. Er verlangt, daß alle Fragen nur von ihm beantwortet werden.«
Das Geräusch der sich öffnenden Türen des Patientenaufzugs lenkte Marissas Aufmerksamkeit auf sie. Sie sah, wie ein Rollbett herausgefahren wurde, bedeckt von einem Isolationszelt aus durchsichtigem Plastikmaterial. Als es an ihr vorbeigeschoben wurde, erkannte Marissa Mrs. Zabriski. Sie erschauerte erneut und fragte sich, ob die örtliche Tageszeitung mit ihrer Schlagzeile wirklich übertrieben hatte.
KAPITEL 6
10. April
Marissa nahm einen weiteren Löffel von der exquisiten Nachspeise, die sie sich nur bei ganz besonderen Gelegenheiten gönnte. Es war der zweite Abend, an dem sie wieder in Atlanta war, und Ralph hatte sie in ein gemütliches und feines französisches Restaurant eingeladen.
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