Virus
aus und erkannte nun den Grund für die Dunstwolke: Sobald Luft von normaler Raumtemperatur auf eine derartige Kälte traf, verwandelte sich die darin enthaltene Feuchtigkeit sofort in Eis.
Marissa wandte sich um und starrte durch den Dunst. Sie schritt tiefer in den Raum hinein, die Schwaden mit ihren Armen zerteilend. Unversehens bot sich ihr ein grausiger Anblick. Sie schrie auf, und das Echo ihres Schreis hallte schrecklich wider in dem unförmigen Schutzanzug. Erst dachte sie, sie sehe Gespenster. Dann erst wurde sie gewahr, daß, fast schlimmer noch, eine Reihe gefrorener nackter Leichen vor ihr stand, im wirbelnden Dunst nur zum Teil zu erkennen. Zunächst glaubte sie, sie stünden da auf den eigenen Beinen in einer Reihe, bemerkte dann aber, daß sie wie für einen Anatomiekurs aufgehängt waren. Als sie näher trat, erkannte Marissa die erste Leiche und glaubte, in Ohnmacht fallen zu müssen: Es war der indische Arzt, den Marissa in Phoenix gesehen hatte, und sein Gesicht war durch die Kälte zu einer zerquälten Totenmaske erstarrt.
Ein gutes halbes Dutzend solcher Leichen war zu erkennen. Marissa zählte sie nicht. Zur Rechten lagen die Kadaver von Mäusen und Ratten, gleichfalls in grotesken Stellungen zusammengefroren. Obwohl Marissa einsah, daß dieses Einfrieren wahrscheinlich für die virologischen Untersuchungen notwendig war, so war sie doch völlig unvorbereitet auf einen solchen Anblick gewesen. Kein Wunder, daß Tad sich bemüht hatte, sie am Betreten dieses Raumes zu hindern.
Marissa verließ den Kühlraum, nachdem sie das Licht gelöscht hatte, und schloß und verriegelte die Tür. Sie zitterte sowohl vor Kälte als auch vor Abscheu.
Für ihre Neugierde bestraft, wandte Marissa nun ihreAufmerksamkeit der Kühltruhe zu. Trotz der Unbeholfenheit wegen des klobigen Plastikanzugs und ihres anhaltenden Zitterns gelang es ihr verhältnismäßig leicht, die Kombination am Zahlenschloß einzustellen und es zu öffnen. Mehr Mühe machte ihr die Gliederkette. Sie war verknotet, und sie hatte zu kämpfen, um sie aus dem Griff zu bekommen. Sie brauchte länger dafür, als ihr recht war, aber schließlich hatte sie es geschafft und konnte den Deckel öffnen.
Marissa rieb das Eis von der Innenseite des Deckels und versuchte, den Standort des Ebola-Virus zu ermitteln. Die Standorte waren in alphabetischer Reihenfolge der Viren aufgeführt. Hinter »Ebola, Zaire 76« hieß es »97, E 11-E 48, F 1-F 12«. Marissa nahm an, daß sich die erste Ziffer auf die Nummer des betreffenden Gestells bezog und die dann folgenden Buchstaben und Zahlen den Standort in diesem Rahmen bezeichneten. Da jedes der Gestelle mindestens tausend Proben enthielt, gab es also fünfzig verschiedene Röhrchen mit Ebola-Viren vom Zaire-76-Stamm.
So vorsichtig wie möglich hob Marissa den Behälterrahmen Nr. 97 heraus und setzte ihn auf der Platte des danebenstehenden Tisches ab. Sie ging die Reihen mit den Vertiefungen durch, deren jede ein kleines, mit einem schwarzen Deckel versehenes Röhrchen enthielt. Marissa war erleichtert und enttäuscht zugleich. Sie fuhr die Reihen entlang und entnahm dann Röhrchen E 11. Das winzige gefrorene Klümpchen darin sah nichtssagend aus, aber Marissa wußte, daß es Tausende von Viren enthielt, von denen schon eines oder zwei, einmal aufgetaut, ausreichten, um einen Menschen zu töten.
Sie schob das Röhrchen wieder in die entsprechende Vertiefung und zog das nächste heraus, um zu prüfen, ob sein Inhalt unversehrt schien. Sie fuhr damit fort und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken, bis sie zu Röhrchen E 39 kam. Das Röhrchen war leer!
Rasch überprüfte Marissa die restlichen Proben – alle weiteren schienen in Ordnung zu sein. Sie hielt Röhrchen E 39 nochmals gegen das Licht, um sich zu vergewissern, daß ihr kein Fehler unterlief. Aber es gab keinen Zweifel – es war tatsächlich nichts in dem Röhrchen. Wenn es auch denkbar war, daß ein Wissenschaftler einmal ein solches Röhrchen falsch einsortierte, so gab es doch keinen vernünftigen Grund dafür, daß ein Röhrchen leer war. Alle ihre bisher unausgesprochenen Ängste, daß die Ausbrüche der Krankheit auf versehentlichen oder sogar bewußten Mißbrauch eines der im Besitz des Seuchenkontrollzentrums befindlichen, mit dem aus Afrika stammenden Virus gefüllten Röhrchen zurückgehen könnten, schienen also bestätigt.
Eine plötzliche Bewegung zog Marissas Aufmerksamkeit auf sich. Das Verschlußrad an der Tür, die in den
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