Visby: Roman (German Edition)
aufschreiben müssen, das wäre nicht mal um vier Uhr morgens spannend genug, um die Klaustrophobie in Schach zu halten.
Der Hund bellte und bellte.
Also: Projekt zwei. Vor die Tür zur Speisekammer. Das nächste Blatt gehörte wieder zum Tagesbogen; diesmal hatte die Skizze sogar eine Legende. Breite = β . Schiefe = σ . TB WWS = Tagesbogen Wintersonnenwende. Na bitte. Vorbildlich. Haufen drei.
Stimmen.
Sie hielt inne. Der Hund war still, aber jemand sprach. Im Freien. Ihr Nachbar vermutlich, dem auch diese Ferienhütte gehörte.
Jemand antwortete. Sie stand auf, schnell, vor ihren Augen tanzten Punkte, sie stieß gegen den Stuhl, schob sich an ihm vorbei zur Tür und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.
Nein. Wenn jetzt das Licht ausging, würde er erraten, dass sie hier war und ihn gehört hatte.
Dummes Zeug, das wusste er längst! Und wenn nicht, erzählte es ihm soeben ihr Nachbar. Denn die beiden unterhielten sich, leiser, die Stimmen ununterscheidbar.
Dann: Stille.
Sie öffnete die Tür zum Flur, lief zur Haustür, schloss auf und zog den Schlüssel ab, schaltete die Außenleuchte ein, trat auf die Veranda hinaus und schloss hinter sich ab. Steckte den Schlüssel ein.
Er war nur noch wenige Schritte von der Veranda entfernt.
»Das ist nah genug.«
Sofort blieb er stehen. Das Licht der Außenlampe reichte gerade so weit, dass sie sein Gesicht erkennen konnte.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Das war leicht. Dein Vermieter hat die Bettwäsche für dich im Hotel ausgeliehen – seine eigene hatte er zum Saisonende schon ausrangiert, die neue war noch nicht gekauft.« Er lächelte. »Ich habe ein Zimmer in dem Hotel. Der Besitzer hält gern mal ein Schwätzchen. Du weißt doch, wie es in kleinen Orten zugeht.«
»Was willst du?« Und bevor er antworten konnte: »Falls jetzt noch eine Entschuldigung kommt: Die werden durch Wiederholung nicht besser. Und falls du mir allen Ernstes einreden willst, du hättest dir Sorgen gemacht … «
Plötzlich wusste sie nicht weiter. Das Schweigen zog sich.
»Ich würde dir nicht glauben«, sagte sie endlich.
Und das war genau das Falsche. Denn sein Lächeln verschwand zwar, aber er ging nicht, er stand nur da und sah sie an. Dann kam er näher, stieg zwei Stufen zur Veranda herauf, zögerte, hob die Hand und strich ihr vorsichtig über die Wange. »Ich fahre nicht einfach so nach Hause, Dhani.«
Wieder fiel ihr keine Antwort ein.
»Wir könnten uns morgen zum Frühstück treffen. In meinem Hotel.«
Sie schluckte und schüttelte den Kopf.
»Dann danach. Zu einem Spaziergang. Du könntest mir die Gegend zeigen.«
Als wenn sie irgendetwas über die Gegend wüsste. »Um die Zeit schlafe ich.« Wieder falsch. Ein Rückzug. Jetzt würden sie nur noch über die Uhrzeit verhandeln.
Doch er setzte nicht nach, sondern blickte von ihr weg zu den erleuchteten Fenstern der Küche. Dann nach oben zur dunklen Mansarde. »Und was machst du nachts?«
Rumkritzeln.
Bier trinken.
In einer Blase aus trübem Licht treiben und grübeln.
Mich fürchten.
»Aufs Hellwerden warten.« Sie wandte sich ab und holte den Schlüssel hervor. »Morgen um eins im Café. Gegenüber vom Laden.« Sie schloss auf und blickte über die Schulter. »Geh jetzt weg, Jens.«
Er stieg die Stufen wieder hinunter und überquerte die dunkle Wiese. Sie wartete, bis sich seine Silhouette zwischen den Büschen links und rechts der Zufahrt abzeichnete. Dann öffnete sie die Tür und schloss von innen ab.
In der Küche: verdrecktes Geschirr, verdreckter Herd, leere Bierdosen, Papier auf dem schmutzigen Fußboden. Nebenan im unbenutzten Schlafzimmer: Papier. Im Bad: feuchte Handtücher, die säuerlich rochen. Spritzer auf dem Spiegel. Haare im Abfluss der Dusche. Im oberen Stock: ein Bettgestell ohne Matratze im Schlafzimmer; nebenan im Wohnzimmer Wäschehaufen auf Sesseln und Stühlen und neben dem Tisch eine Matratze mit zerwühltem Bettzeug. Staubmäuse. Leere Bierdosen.
Sie lebte im Slum und hatte es nicht bemerkt.
Sie trug die Bierdosen nach unten, öffnete die Kammer unter der Treppe und inspizierte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft das Putzzeug. Es gab sogar Waschmittel. Sie schleppte den Staubsauger nach oben, sammelte sämtliche Kleidung ein, zog Sweatshirt, Hose und Socken aus und warf sie dazu, stopfte alles im Bad in die Waschmaschine, zusammen mit sämtlichen Geschirr- und Handtüchern, wählte irgendein Programm und schaltete ein. Sie saugte im Wohnzimmer Staub, trug einen
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