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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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dass Indrasena tot ist, darüber weint er bis heute.«
    Und ihre Mutter hatte ihren Tod verschuldet. Traf man sich drüben wieder? Wenn man so schnell hintereinander starb, die eine spät abends, die andere am Vormittag? Traf man sich bei irgendeiner Kontrollstelle, an der entschieden wurde, zu welcher Abteilung des Jenseits man Zutritt bekam? Dann hatte ihre Mutter auch dort wieder zusehen dürfen, wie Indrasena liebevoll ins Lichte, Warme komplimentiert wurde. Während sie selbst …
    »He. Dhani.«
    Seine Hände auf ihren Händen. Ihren geballten Fäusten. Sie öffnete sie; erstaunlich, wie viel Konzentration das verlangte.
    »Es ist über zwanzig Jahre her. Du warst damals fünf.«
    »Das weiß ich.«
    »Du bist für nichts davon verantwortlich. Es ist ihr Chaos. Das deiner Eltern und ihrer Freunde. Lass dich nicht im Nachhinein noch hineinziehen. Es ist verständlich, dass du Bescheid wissen wolltest, aber … «
    »Freut mich. Dass das wenigstens einer von uns versteht. Ich frage mich nämlich echt, was ich mir davon versprochen habe. Ich wusste , dass sie sich umgebracht hat. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen … «
    Nein. Nicht immer und immer wieder den gleichen Film. Sie zog ihre Hände weg und stand auf. »Lass uns ein bisschen rausgehen, ja?«
    Draußen legte er den Arm um sie. Sie überquerten die Terrasse, wandten sich auf der Hauptstraße nach links und bogen gleich hinter dem Café wieder links ab. Richtung Meer. Eine Nebenstraße, die von Hecken und Zäunen eingefasst war. Hohe Kiefern, Sommerhäuser. Der Nieselregen legte sich als kühler Film auf ihr Gesicht. Die Straße endete an einer holprigen Wiese, die im Sommer wohl als Campingplatz benutzt wurde. Sie gingen durchs Gras bis zu dem letzten flachen Hügel, hinter dem die Wiese zum Strand hin abfiel. Dort setzten sie sich unter eine Kiefer, in den Schutz eines tief herabreichenden, dicht benadelten Asts. Es war windstill, kein Grashalm bewegte sich. Sie lehnten nebeneinander am Baumstamm, ihre Arme berührten sich. Eine Krähe landete auf dem Strand, pickte lustlos im angespülten Tang und flog wieder auf. Weiter draußen verschwand das Meer hinter Regenschleiern.
    »Ich dachte, es hilft, wenn ich ihre Gründe verstehe. Weshalb sie von den Klippen gesprungen ist. Aber jetzt weiß ich die Gründe, und ich verstehe sie immer noch nicht. Sie ist einfach … weggelaufen. Sie hatte eine Tochter. Ich war fünf! Würdest du … «
    Nein. Das war die falsche Frage. Sie setzte sich auf, winkelte die Knie an und schlang die Arme darum.
    »Ein Stück den Strand entlang gibt es eine Gegend mit merkwürdigen Felsformen. Das Labyrinth. Da habe ich früher öfter gespielt, jedenfalls hat Adrian das erzählt. Ich bin hingefahren. Ich dachte, vielleicht erinnere ich mich da an sie … «
    Graue Felssäulen auf grauem Kies. Graues Meer.
    Nur in den Tümpeln leuchteten Farben. Grüne Algenschleier, bunte Steinchen.
    Sie berührte das Wasser, und das Bild verzerrte und wellte sich; sie tauchte die Hand tiefer hinein, bis auf den Grund; und hielt still, bis auch die Steine wieder still dalagen.
    Eine Schatztruhe. Mit einem Deckel aus Licht.
    Rings umher Wächter aus Stein.
    Guck doch mal, Mama.
    Ein schimmernder Stein in ihrer Hand, ihrer kleinen Kinderhand, blass gelb und durchscheinend, ein Edelstein.
    Guck doch mal. Doch ihre Mutter war schon fort, sie ging zwischen den Felsen davon, am Känguru vorbei, den Hang hinauf, zu den Bäumen. In den Wald. Zum Haus. Zu den anderen aus der Gruppe.
    »Aber ich sehe sie nie wirklich vor mir. Nur einen Schatten. Von dem ich nicht mal weiß, ob ich ihn erfinde. Als hätte sie in meinem Leben keine Rolle gespielt. Und ich nicht in ihrem … «
    Er legte den Arm um sie. Sie ließ die Knie los und lehnte sich an. Zog die Jacke enger um sich, schob die Hände in die Ärmel.
    »Vielleicht war es ja so. Vielleicht war die Liebe zu Eglund derart wichtig für sie, dass für alle anderen kein Platz blieb.«
    Außer für Nandin.
    Und für Adrian? Warum dann nicht für sie? Weil kleine Kinder lästig waren, weil sie einem auf dem Weg zur Erleuchtung nicht halfen? Oder lag es an ihr, stand ihr die eigene Wut im Weg, so dass sie die Erinnerungen einfach nicht fand?
    »Wenn ich nur mehr darüber wüsste.«
    Er drückte sie an sich. »Es ist einfach so verdammt lange her, Dhani. Selbst die Leute, die dabei waren, erinnern sich doch nur noch an das, woran sie sich erinnern wollen. Du hast getan, was du konntest. Du hast Barnes befragt

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