Visby: Roman (German Edition)
nächsten, mit langen Zwischenstopps in Eglunds Waldhaus auf Gotland und eben bei seinem Bruder. Bei einem dieser Besuche erwähnte er wie nebenbei, dass er mit einer der Frauen im Waldhaus eine kleine Tochter hatte. So erfuhr Frohnert von Dhanavati.
Muss ich extra erwähnen, dass Rainer in seiner eigenen Version der Geschehnisse nur aus den reinsten Motiven zu Eglunds Verhaftung beigetragen hat? Dass er sich erst nach qualvoller Gewissenserforschung dazu durchrang, seinen Freund an die schwedische Polizei zu verraten – dass er es vermutlich nie getan hätte, wenn er nicht den schlimmen Einfluss eines professionellen Drogenhändlers auf seine kleine Tochter gefürchtet hätte? Glaubt man meinem Chef, war Rainer ein Held, und ein Märtyrer obendrein, denn nach dem Verrat an Eglund musste er aus Furcht vor dessen Rache einen neuen Namen annehmen und seine geliebte Tochter im Stich lassen.
So weit Rainers Geschichte. Ich hoffe, Sie sind angemessen gerührt. Was mich betrifft, gibt es nur einen Punkt, den ich uneingeschränkt glaube: dass Frohnert (mein Frohnert) geradezu glücklich war, als er herausfand, dass die Mathematikerin D. Reinerts, die in Århus an Epidemiemodellen arbeitete, mit Vornamen Dhanavati hieß und aus Ostwestfalen stammte. Das waren die einzigen Informationen über seine angebliche Nichte, die er bis dahin besaß. Er beschloss augenblicklich, sie von ihrer bisherigen Chefin zu sich ans IAI zu locken. Sie zu fördern und über ihre Zukunft zu wachen, als wäre sie seine eigene Tochter. Er selbst hat keine Kinder. Ich glaube, er sah Dhanavati bereits als seine geistige Erbin.
Insofern war er tatsächlich entsetzt, als er hörte, zu welchen Mitteln Schulz und Nagel gegriffen haben. Allerdings legte sich das recht schnell. In den folgenden Tagen war er auffallend schwer zu erreichen, und als ich ihn endlich zu fassen bekam, erklärte er mir doch tatsächlich, das Ganze sei ein Missverständnis gewesen, mittlerweile sei alles bereinigt, ich brauchte mir keine Sorgen zu machen.
Der Gute.
Der Grund für diesen Sinneswandel wurde mir klar, als Sie mir bei meinem zweiten Besuch in Westerkoog den Text zeigten, den Dhanavati in dem Forum für Serienfans veröffentlicht hatte. Daraus ging hervor, dass Dhanavati gar nicht Frohnerts Nichte ist. Offenbar hatte Frohnert das inzwischen auch erfahren. Von seinem Bruder natürlich, zu dem er ja anscheinend nach wie vor Kontakt hat. Obwohl dieser Bruder unter falschem Namen ein neues Leben begonnen hat. Dass Rainer – wie immer er jetzt heißt – ihn belogen und ausgenutzt hat, um irgendeine alte Rechnung mit Eglund zu begleichen, scheint ihn wenig zu kümmern. Entsetzt war er nur, so lange er dachte, seine eigene Nichte sei zu Schaden gekommen. Irgendwann möchte ich ihn schon einmal fragen, ob es ihm wirklich so gleichgültig ist, was sein Bruder mit Fremden anstellt. Manche Dinge darf man nicht unkommentiert lassen. Aber das nur am Rande. Für Ihre Suche nach Barnes ist das alles ohne Belang.
Von meinem zweiten Treffen mit Ihnen weiß Frohnert übrigens bis heute nichts. Bei meiner Rückkehr nach Köln habe ich ihm Märchen über einen Krankheitsfall in der Verwandtschaft erzählt und zehn Tage Urlaub genommen.
Am nächsten Nachmittag war ich in Ljugarn.
Viel mehr gibt es gar nicht zu berichten. Natürlich bin ich nicht gleich wieder nach Hause gefahren, sondern habe mir ein Hotelzimmer genommen, Dhanavatis Ferienhütte ausfindig gemacht – der Hotelbesitzer Carl erwies sich als bestens informiert – und noch einmal versucht, mit ihr zu reden. Und noch einmal. Beim nächsten Mal schickte sie mich wieder weg, beim übernächsten Mal trank sie einen Kaffee mit mir, kurz darauf fuhren wir nach Visby und kauften ihr Laufschuhe, und von da an trafen wir uns regelmäßig zum Joggen. Die Bewegung tat ihr gut: Sie schlief besser, aß mehr, trank weniger Bier und fand allmählich aus dem seelischen Tief heraus, in das sie nach dem Treffen mit Eglund hineingerutscht war.
Was in Riga genau passiert ist, hat sie mir übrigens nie erzählt. Wir haben zwar mehrfach darüber diskutiert, welche Absichten Rainer Frohnert verfolgt haben könnte, als er Nagel und Schulz zu ihr schickte – ob er tatsächlich nur eine alte Rechnung mit Eglund begleichen wollte oder ob auch geschäftliche Interessen mitspielten, und wenn es ihm um Rache ging, wofür er sich eigentlich rächen wollte? Aber über die Begegnung mit ihrem Vater sagte sie stets nur, er habe sie wieder
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