Visby: Roman (German Edition)
klang fast so kühl wie früher. »Und als ihr Nandin dann gefragt habt, was ihm einfällt, seiner eigenen Tochter Schläger auf den Hals zu schicken – was hat er da gesagt? ›Tut mir echt leid, aber die Versuchung war zu groß – in Wirklichkeit ist sie nämlich die Tochter von jemand, den ich bis aufs Blut hasse‹? Hat er euch auch erzählt, wie die Sache weitergehen sollte? Dass er Eglund schon eine Warnung zugespielt hatte: Demnächst würde ein BND -Spitzel bei ihm auftauchen und sich als seine Tochter ausgeben? Hat er das erwähnt? Dass er erreichen wollte, dass Eglund mich umbringt? Das eigene Kind?«
Ich muss sie ziemlich entsetzt angestarrt haben, denn sie atmete tief ein und fuhr ruhiger fort: »Fahr nach Hause, Jens. Fahr nach Hause und sag deinem Chef und seinem Bruder, es hätte fast funktioniert. Sie haben nur einen Punkt nicht bedacht. Ich bin meinem Papa scheißegal. Es wäre ihm scheißegal gewesen, ob er mich umbringt.« Sie umfasste die Lenkergriffe, klappte den Fahrradständer hoch und setzte den linken Fuß aufs Pedal.
»Ich bin doch nicht hier, weil Frohnert es will!«
Einen winzigen Moment schien sie zu zögern. Dann sagte sie noch einmal: »Fahr nach Hause«, und schwang das rechte Bein über den Sattel. Das Rad wankte, aber sie hielt es senkrecht. Sie überquerte den holprigen Vorplatz, bog auf die Straße ein und fuhr Richtung Hafen davon.
Inzwischen wird Ihnen aufgefallen sein, dass ich damals in meinem Bericht einiges unterschlagen habe. Als ich ihn schrieb, wusste ich schon, dass Frohnert Dhanavatis Onkel war. Oder vielmehr, dass er glaubte, ihr Onkel zu sein. Er hatte es mir gesagt, als ich aus Århus zurückkam – nach meinem ersten Besuch in Westerkoog – und unangemeldet in sein Büro stürmte, voller Wut, weil er mich zum Komplizen von Schulz und Nagel gemacht hatte. Vermutlich hatte er gar nicht vor, mich einzuweihen, aber als ich ihm beschrieb, was ich an dem Morgen in Dhanavatis Wohnung mit eigenen Augen gesehen hatte, sprudelte es förmlich aus ihm heraus. »Er ist ihr Vater! Er würde ihr nie etwas tun!«
»Wer ist ihr Vater?«
»Rainer. Mein Bruder.«
Es erklärte so manches. Denn dass Frohnerts Interesse an Dhanavati über das Übliche hinausging, war tatsächlich deutlich zu spüren gewesen. Ich sehe ihn noch in diesem Hotelzimmer in Sennewitz sitzen, als ich abends vorbeischaute, um ihm zu sagen, dass Dhanavati zu meinen Kandidaten für blind seer gehörte und ich sie deshalb überprüfen musste, bevor er sie ans IAI holte. Er wurde ganz still. Er schien in sich zusammenzusinken. Und auf dem Schreibtisch stand eine geöffnete Piccoloflasche Sekt, daneben ein fast leeres Glas. Als hätte er ganz für sich allein gefeiert. Weil er am Nachmittag mit Dhanavati geredet hatte und glaubte, sie würde sein Stellenangebot annehmen. Seine Nichte. Mathematikerin an seinem Institut.
Nachdem Frohnert einmal begonnen hatte, über seinen Bruder zu sprechen, war er kaum noch zu bremsen. Mehrere Jahre jünger und der Liebling der Eltern – sehr intelligent, aber ein schlechter Schüler – charmant, widersprüchlich, unbeherrscht: Das ist so ungefähr das Bild, das dabei entstand. Während Ulrich Frohnert zielstrebig seine Karriere vorantrieb, mit unter dreißig promovierte, mehrere Jahre in Amerika verbrachte, mit vierzig zum Professor berufen wurde und mit siebenundvierzig die Leitung des IAI übernahm, schaffte Rainer das Abitur erst verspätet, ging für zwei Jahre zur Bundeswehr, verweigerte sich anschließend allen Versuchen, ihn für ein Studium zu gewinnen, gründete stattdessen mit einem Schulfreund eine Kneipe in Dortmund, die schnell zum Treffpunkt aller ziel- und planlosen Jugendlichen der Umgebung wurde, lernte dort Dhanavatis Mutter Gisela kennen, als sie eben den Staub Ostwestfalens von ihren Füßen geschüttelt hatte, ließ seinen Kumpel kurz vor dem Bankrott der Kneipe im Stich und fuhr mit Gisela nach Indien.
Sein Bruder Ulrich missbilligte all diese Aktivitäten selbstverständlich von Herzen. Trotzdem ist es denkbar, dass er Rainer stets ein wenig beneidet hat. Vielleicht nicht um das Leben, das er führte – aber um die Sorglosigkeit, mit der er Konventionen und die Rechte anderer beiseiteschob, wenn sie ihn störten. Auf jeden Fall ließ er Rainer nach dessen Rückkehr aus Indien mehrfach bei sich wohnen, oft viele Wochen lang. In diesen Jahren – Ende der Siebziger und bis in die Achtziger hinein – zog Rainer von einer europäischen Stadt zur
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