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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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schlich über die Straße. Nur ein Güterzug ratterte durchs Tal, und eine Kirchturmuhr schlug ein Mal: halb zehn.
    Eine Tür quietschte. Keine Haustür, eher das Tor zu einem der Schuppen. Gleich darauf fiel es mit leisem Klappen zu. Ein paar Sekunden lang war es still, dann polterte etwas. Das Tor quietschte wieder. Jemand stolperte auf die Straße heraus, taumelte gegen ein Auto und sackte in sich zusammen.
    Ich sprang die Böschung hinunter und rannte hin. Sie hockte neben dem Auto auf dem Bürgersteig, zusammengeduckt, das Gesicht auf den Knien. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter.
    »He. Alles in Ordnung?«
    Sie schoss in die Höhe. Bleich im Gesicht, die Augen riesig. Ich streckte erneut die Hand aus. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Auto stieß. Sie sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden.
    Ich trat auch einen Schritt zurück. Offensichtlich brauchte sie Abstand. »Hallo. Ich bin es. Jens Nilsson. Erinnern Sie sich? Was ist denn passiert? Geht es Ihnen nicht gut?«
    Die dümmste Frage der Welt. Aber der Tonfall drang zu ihr durch, sie entspannte sich etwas, und ihr Atem beruhigte sich. Doch ihre Hände umklammerten weiter ihre Oberarme, als müsste sie sich an etwas festhalten.
    »Ist etwas passiert?«
    Allmählich wurde ihr Blick wieder klar, und sie schien mich zu erkennen. Sie ließ die Arme sinken und atmete tief ein. Zugleich machte sie einen Schritt zur Seite, so dass sie freien Raum im Rücken hatte.
    »Das Tor ist zugefallen«, sagte sie endlich.
    Ich sah mich um. Wir standen vor einem Anbau mit einem zweiflügeligen Holztor. Vermutlich die Garage der Reinerts. Etwas Bedrohliches konnte ich beim besten Willen nicht erkennen.
    »Die Lampe drinnen ist kaputt. Die Tür zum Haus hat einen Schließer, deshalb habe ich das Tor aufgemacht, damit Licht reinkommt. Aber es ist wieder zugefallen.« Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und durch die Haare. Dann merkte sie wohl, dass ich immer noch nichts begriff. »Ich habe Angst im Dunkeln«, sagte sie ungeduldig. »In geschlossenen Räumen. Ich kriege dann Panik.«
    »Klaustrophobie.«
    »Ja, genau.«
    »Ich habe Höhenangst.« Eine starke Übertreibung, aber es diente schließlich einem guten Zweck.
    Sie lächelte unsicher.
    »Was wollten Sie denn da drinnen?«
    »Da stehen Sachen von meiner Mutter.« Sie machte sehr zögerlich einen Schritt auf das Tor zu. »Meine Tante hat sie zusammengepackt, als sie das Haus meiner Großeltern ausgeräumt haben. Sie wollen da selbst einziehen … «
    Also darum ging es dem Haus an den Kragen. »In Henglinghausen? Netter Ort.« Falls es einem in Marsberg mal zu hektisch wird, ergänzte ich im Stillen.
    Ich zog das Tor auf. Im Licht der Straßenlaterne glänzte ein dunkler Kombi, vorbildlich poliert. Dahinter und in den Winkeln war nichts zu erkennen.
    »Wo stehen die Sachen denn?«
    Sie kam zu mir herüber. »Gleich neben der Tür da. Ganz unten im Regal. Es ist nur eine Kiste.«
    »Halten Sie das Tor auf, ja?«
    Ich zwängte mich an dem Kombi vorbei. Im schwachen Widerschein der Laterne zeichnete sich rechts in der Wand ein Rechteck ab: der Durchgang zum Haus. Dahinter war nur noch Dunkelheit. Ich tastete umher. Regalböden aus Metall. Ich bückte mich und stieß auf Pappe. Ein Karton, etwa dreißig mal vierzig Zentimeter. Ich zog ihn heraus und trug ihn auf die Straße.
    »Ist er das?«
    Der Karton hatte keinen Deckel. Ganz oben lag ein Fotoalbum mit billigem türkisgrünem Plastikeinband. Dhanavati hob es heraus und schlug es auf. Darunter kamen alte Plastikschnellhefter zum Vorschein, außerdem eine Schneekugel mit einem weißgoldenen Engel darin und anderer Krimskrams. An der Seite steckten ein paar Schallplatten, bei der vordersten konnte man den Titel lesen: Golden Hour of Melanie.
    »Ja.« Sie legte das Album zurück und wollte mir die Kiste abnehmen.
    »Das kann ich doch tragen. Sie sehen immer noch ein bisschen wacklig aus.«
    »Danke.« Sie ließ das Tor zufallen und drückte dagegen, damit das Schloss einschnappte. Abschließen musste man offenbar nicht. Auch nicht bei den Verwandten »Auf Wiedersehen« sagen, »Danke für den Wein/den Kuchen/das Wasser« oder »Bis zum nächsten Mal«. Wir gingen die Straße hinunter, ziemlich schnell. Sie schien es eilig zu haben.
    »Wieso waren Sie eigentlich so plötzlich zur Stelle?«, fragte sie nach einer Weile. »Sind Sie mir nachgegangen?«
    »Ich war spazieren.« Ich nahm den Karton unter den anderen Arm. »Aber ich habe auch

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