Visby: Roman (German Edition)
rauschen hörte. Als ich mich ins Gästebuch eintrug, entdeckte ich zwei Zeilen höher den Namen Reinerts. Maria Kingsleys Methode war noch direkter: Sie fragte den Wirt nach der Zimmernummer. Während ich mein Waschzeug auspackte, hörte ich sie auf dem Gang an eine Tür klopfen und rufen. Vergeblich.
Wir aßen im Hotel, beide wortkarg, umgeben von einigen versprengten Urlaubern, die auch nicht sonderlich glücklich wirkten. Danach schlug ich einen Spaziergang durch den Ort vor, aber Maria Kingsley war angeblich zu müde. Also brach ich allein auf.
Acht Uhr an einem Samstag. Die Läden hatten längst geschlossen, auf den Straßen war kaum jemand unterwegs. Wie auch immer die Marsberger am Wochenende ihre Abende verbrachten, sie achteten offensichtlich darauf, dass nichts davon nach draußen drang.
Inzwischen hätte Dhanavati selbst zu Fuß längst in Marsberg angekommen sein müssen. Ich schlenderte am Haus der Reinerts vorbei – es wiederzufinden, war nicht schwierig, nicht wenn Maria Kingsley nicht dabei war –, doch die erleuchteten Zimmer waren hinter dicken Vorhängen versteckt. Also ging ich wieder hügelabwärts Richtung Diemel, umrundete das Hotel und zählte die Fenster ab. Ihres war dunkel. Von der Treppe zum Haupteingang aus konnte ich Maria Kingsley in der Gaststube sitzen sehen. Sie hatte ein Kaffeegedeck neben sich stehen und las.
Die Patentante wartete auf ihr Patenkind. Und dem Kind machte es vermutlich Freude, die Tante warten zu lassen. Nur deshalb war sie noch nicht wieder hier. Überhaupt kein Grund, sich Sorgen zu machen.
Trotzdem betrat ich nicht das Hotel, sondern überquerte die Diemel. Am anderen Ufer zog sich eine Grünanlage den Fluss entlang. Ich folgte dem unbeleuchteten Weg durch feuchte Wiesen und ein bewaldetes Steilufer hinauf. In einer Lücke zwischen den Bäumen blieb ich stehen und lehnte mich an das Geländer, das den Weg zum Fluss hin sicherte. Direkt unter mir rauschte und sprudelte es. Weiter rechts spiegelten sich die Straßenlaternen auf der Brücke.
Noch nicht mal neun Uhr, und es war niemand mehr unterwegs. Ungefähr alle fünf Minuten fuhr ein Auto über die Brücke. Ein alter Mann ließ sich von seinem Hund von Laternenmast zu Laternenmast ziehen. Ich legte den Kopf in den Nacken und hielt zwischen dem Laub nach Sternen Ausschau, aber es waren Wolken aufgezogen. Mit etwas Glück würde es auf der Rückfahrt nicht ganz so heiß werden.
Und dann sah ich sie. Helle weite Hose, helle Jacke. Große und schnelle Schritte. Sie kam von meiner Seite der Diemel und überquerte die Brücke in Richtung Hotel. Ich fragte mich, was sie hier gemacht hatte. Henglinghausen lag auf der anderen Seite, das Haus der Reinerts ebenfalls.
Ich ging ihr nach. Sie bog nicht zum Hotel ab, sondern folgte der Einkaufsstraße bergauf. Ich hielt mich dreißig Meter hinter ihr, links auf dem Gehweg, so dass mich die parkenden Autos verdeckten. Sie ging in der Straßenmitte. Langsam jetzt, die Hände in den Hosentaschen, den Blick vor sich auf das Pflaster gerichtet. Nachdenklich oder müde.
Weiter unten am Hang wurde eine Autotür zugeschlagen. Sie drehte sich um. Ich wandte mich dem nächstbesten Schaufenster zu, der Auslage eines Schuhgeschäfts. Als ich das nächste Mal die Straße hinaufblickte, war sie verschwunden.
Der Schreck hielt höchstens eine Zehntelsekunde lang vor. Dann erkannte ich das Haus der Reinerts. Spätestens jetzt hätte ich ins Hotel zurückkehren können. Dhanavati hatte sich nicht im Wald verirrt und war auch nicht ohne Gepäck in einen Zug gesprungen, weil sie erfahren hatte, dass mein Bekannter und seine Kollegen ihr auf der Spur waren. Sie besuchte ihre Verwandten. Wie Tante Doris vorhergesagt hatte. Ich hätte mich im Hotelzimmer vor den Fernseher setzen und früh schlafen gehen können.
Stattdessen schlenderte ich weiter die Straße hinauf und setzte mich auf eine Bank, die an einer Böschung neben einem zwei Meter hohen Holzkreuz stand.
Von dort aus hatte ich freien Blick über den oberen Abschnitt der Straße. Hier gab es keine Geschäfte mehr, die schmalen Bürgersteige liefen vor zweistöckigen Wohnhäusern entlang. In die Lücken zwischen den Häusern waren Schuppen und Garagen gebaut, so dass sich eine durchgehende Front ergab. Jeder, der eins der Häuser verließ, musste in mein Blickfeld geraten, würde mich aber nicht bemerken, weil ich im Schatten einer Fichte saß.
Eine halbe Stunde lang geschah buchstäblich nichts. Nicht einmal eine Katze
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