Visby: Roman (German Edition)
vernünftigste Entscheidung ist … «
An dem Punkt erlöste mich der Wirt und stellte zwei perfekt gezapfte Bier auf den Tisch. Dhanavati drückte die Zigarette aus und fuhr mit der Fingerspitze durch einen Tropfen Schaum, der außen an ihrem Glas hing.
»Vernünftig.« Offenbar hatte sie mir tatsächlich zugehört. Sie strich den Tropfen zum Stiel der Biertulpe hin aus, dann tupfte sie die Fingerkuppe sorgfältig auf dem Bierdeckel trocken. »Finden Sie Maria vernünftig?«
»Na ja … «
»Ich petze schon nicht. Maria arbeitet vierzehn Stunden am Tag und verdient weniger als ein niedergelassener Arzt. Jetzt will sie mich an ein Institut verkaufen, von dem sie politisch gar nichts hält – das ist Ihnen doch wohl nicht neu, oder?« Offenbar war ich zusammengezuckt. »Dabei weiß ich, dass sie mich gern hat. Aber sie schmeißt alles weg, was ihr sonst noch wichtig ist, um ihre afrikanischen Projekte zu retten. Ist das vernünftig?«
»Sie sieht das als ihre Mission … «
»Ja. Eben.« Sie hob ihr Glas. Wir stießen an. »Wie heißt du mit Vornamen?«
»Jens.«
»Wie war das bei dir, Jens? Als du zur Bundeswehr gegangen bist. War das vernünftig?«
Es lag mir auf der Zunge, mit einem Witz zu antworten. Aber ich wusste, was sie meinte. »Zu neunzig Prozent war es die reine Vernunft, ja. Meine Eltern waren schon über ihren eigenen Schatten gesprungen, als sie mich überhaupt Abitur machen ließen – sie waren Obstbauern in der Nähe von Hamburg, inzwischen haben meine Schwester und ihr Mann den Betrieb übernommen. Sie hätten kaum akzeptiert, dass ich noch einmal Jahre vertrödele, ohne Geld zu verdienen. Außerdem, die Art, wie sich die Reiche-Leute-Kinder an der Uni auf Kosten ihrer Eltern ein schönes Leben machen … « Ich unterbrach mich. Sie grinste.
»Red nur weiter. Ich hatte ein Stipendium von der Studienstiftung. Und getrödelt habe ich nicht.«
»Ich will diese Art zu leben gar nicht schlechtmachen. Jeder, wie er mag. Ich hatte halt andere Prioritäten. Mein Studium war nach dreieinhalb Jahren beendet. Und ich habe vom ersten Tag an Geld verdient.«
»Und danach? Hat es dir gefallen?«
»Ja. Durchaus.«
Ich dachte, ich hätte völlig neutral geantwortet, aber etwas in meinem Tonfall muss sie aufmerksam gemacht haben, denn sie beugte sich vor, sah mich ein paar Sekunden lang schweigend an und bohrte dann nach.
»Und als du aufgehört hast, war das auch die reine Vernunft?«
»Da galt es, zwischen zwei Faktoren abzuwägen, die beide Gewicht hatten. In so einem Fall bleibt immer etwas auf der Strecke. Aber ja, ich denke, es war richtig.«
Sie schwieg wieder, als würde sie meine Antwort im Geist sezieren. »Danach habe ich aber nicht gefragt, oder?«
»Du … «
»Ich wollte nicht wissen, ob du zu deinen Entscheidungen stehst. Sondern ob da irgendwo, an irgendeinem Punkt der Kette, auch so etwas wie … Sehnsucht ins Spiel kam.«
Das Zögern war winzig und trotzdem unüberhörbar. Sie merkte es, senkte den Kopf und fing an, eine neue Zigarette zu drehen.
»Sehnsucht?«
Sie räusperte sich. Den Blick fest auf ihre unfertige Zigarette gerichtet. »Oder wie immer man das nennen soll. Ein Gefühl, dass man irgendwo unbedingt hinmuss. Was nichts mit irgendwelchen Gründen zu tun hat … « Sie hob den Kopf. »Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, oder?«
Ich sagte nichts. Nach ein paar Sekunden sah sie weg, suchte umständlich nach ihrem Feuerzeug und zündete die Zigarette an.
Was ich schließlich antwortete, ist privat, und ich habe nicht die Absicht, es hier ausführlich wiederzugeben. Im Wesentlichen ging es um ein Ereignis, kurz bevor ich die Bundeswehr verließ. Ich war damals im Kosovo stationiert und im Bergland an der albanischen Grenze im Einsatz. Da kam die Nachricht, dass meine sechsjährige Tochter verunglückt war – sie war auf ihren neuen Rollerblades vor ein fahrendes Auto gelaufen – und schwer verletzt im Krankenhaus lag. Ich wurde abgelöst und sollte auf dem schnellsten Weg nach Deutschland zurückkehren. Um den Geländewagen zu erreichen, mit dem mein Ersatzmann gekommen war, musste ich zwei Stunden zu Fuß ins Tal hinuntersteigen. Und auf diesem Fußmarsch am frühen Morgen gab es eine Situation, die ich Dhanavati beschrieb. Kein besonderes Erlebnis, einfach einen dieser Momente, in denen einem bestimmte Dinge plötzlich klar vor Augen stehen. Und mir wurde zweierlei bewusst. Erstens, dass dies mein letzter Auslandseinsatz war, weil ich meiner Frau nicht noch
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