Visby: Roman (German Edition)
dunklen Hausdächer. Die parkenden Autos. Die leeren Straßen. Da war das Haus von Robert und Doris. Der Baum im Hof, über dessen Ast sie Nacht für Nacht ins Freie geklettert war.
Hatten sie es wirklich nie gemerkt? Wenn sie sich beim Klettern die Hände aufschürfte – wenn ihr ein Zweig ins Gesicht schlug – wenn ihre Hosenbeine morgens vom Tau nass waren? Oder hatten sie es ausgesperrt, wie man hier alles aussperrte, was man nicht verstand?
Da war die Kneipe. Da das Hotel. Da lag Maria in ihrem Bettchen und träumte von den schönen Projekten, die sie vom EuroShield-Geld bezahlen würde.
Und Jens. Nett, dieser Jens. Ruhig. Witzig. Selbst die Bundeswehraura war irgendwie – nett. Übersichtlich. Leicht einzuordnen. Dachte man jedenfalls. Zunächst.
Aber er trug einen Ehering. Von so etwas ließ sie inzwischen die Finger.
Sie drehte sich eine Zigarette und steckte sie an, stieg über das Geländer und setzte sich mit den Beinen nach außen auf die oberste Stange. Da lagen sie alle und schliefen, in ihren hübschen Zimmern, in ihren niedlichen Häusern. Hinter den sieben Bergen. Die Turtles von Marsberg. Die Turmuhr schlug: drei Uhr morgens. Viel Raum.
NILSSON
AUTOBAHN
28. AUGUST
Wir brachen nach dem Frühstück auf. Es war eine schweigsame Reisegesellschaft: Maria am Steuer, müde, aber verbissen, und auf dem Rücksitz Dhanavati, den Kopf auf einer zusammengerollten Jacke, die Füße gegen die Seitenwand gestemmt. Kopfhörer im Ohr. Wann immer ich mich umdrehte, hatte sie die Augen geschlossen. Vielleicht schlief sie sogar. Wir waren am Abend nur für zwei Bier in der Kneipe geblieben, aber beim Frühstück hatte sie trotzdem so ausgesehen, als hätte sie keine drei Stunden geschlafen.
Maria fuhr ruhiger als am Vortag und versuchte auch keine Abkürzungen zu finden. Die Landstraßen waren voll von Sonntagsausflüglern, aber auf der Autobahn kamen wir schnell voran. Bei Hannover lenkte sie den Wagen auf den Parkplatz einer Raststätte, reichte mir den Autoschlüssel, stieg aus und ging zum Rasthaus hinüber. Wortlos. Dhanavati hatte sich aufgesetzt, als wir hielten, und blickte ihrer Chefin nach. Ebenfalls wortlos. Zwei Sekunden später rutschte sie zur Fahrerseite hinüber, zwängte sich ins Freie und folgte ihr.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich eigentlich nur eine Sorge: ob wir die Fahrt ohne einen handfesten Streit zwischen den beiden überstehen würden. Die Suche nach blind seer hatte ich vertagt, bis ich wieder in Århus war und mir die übrigen Kandidaten anschauen konnte. Und was Dhanavatis Wechsel ans IAI betraf, hatte ich noch am Abend beschlossen, mich nicht weiter einzumischen.
Damit blieb die Komplikation mit meinem Bekannten und dem Waffenhändler, und die lag mir durchaus auf der Seele. Nach einem kurzen Abstecher zur Herrentoilette setzte ich mich am Parkplatzrand auf einen Betonpoller und rief Steffen an.
Er wollte augenblicklich wissen, wo ich war und wann ich nach Århus zurückkommen würde. Oder vielmehr: wann Dhanavati zurückkommen würde. Offenbar hatte sich mein Bekannter wieder gemeldet und Steffen gebeten, auf den Servern des AIMSEP nach weiteren E-Mails der Person zu suchen, von der die Mail mit dem Namen des Waffenhändlers stammte. Steffen hatte jedoch nur noch eine weitere Nachricht gefunden, die er außerdem unverständlich fand: Darin stand nur, dass Dhanavati mit Nachnamen Reinerts hieß und am AIMSEP arbeitete. Was man ihr ja, wie Steffen richtig bemerkte, nicht extra mitteilen müsste.
Mein Bekannter hatte daraufhin die Vermutung geäußert, dass Dhanavati noch ein privates Postfach besaß und alle wichtigen Mails an diese andere Adresse gingen. Weshalb es sehr wünschenswert wäre, einen Blick auf etwaige Mails zu werfen, die auf ihrem Laptop gespeichert sein mochten. Den Laptop hätte sie doch sicher dabei. Ob ich mir irgendwie Zugang verschaffen könnte?
Der Autoschlüssel steckte in meiner Hosentasche. Ich hätte nur zum Parkplatz gehen, den Kofferraum öffnen und Dhanavatis Laptop einschalten müssen. Wenn ihre Festplatte nicht verschlüsselt war, hätte ich die Antwort in drei Minuten gehabt.
Aber ich dachte gar nicht daran. Ich fand es – milde ausgedrückt – schon erschreckend, dass Steffen noch einmal auf den Mailservern des AIMSEP herumgeschnüffelt hatte. Im Auftrag eines Mannes, über den er praktisch nichts wusste. Sicher, der Kontakt zu diesem Mann war über mich gelaufen – aber ich hatte Steffen auch schon einmal einen Autohändler empfohlen. Ob
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