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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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einmal zumuten konnte, ganz allein mit allen familiären Katastrophen fertigzuwerden, während ich auf Monate unerreichbar war. Und zweitens, dass ich eine Chance verpasst hatte, die nicht wiederkommen würde. Ich rede nicht von Aufstiegschancen. Es ging um etwas viel Wichtigeres. Etwas, das man eigentlich zum Leben braucht, aber bisher nicht gefunden hat.
    Ob Sie damit etwas anfangen können oder nicht, ist letztlich nebensächlich. Wichtig ist, dass es ihr etwas sagte. Dass es ihr offenbar ähnlich ging. Damals glaubte ich natürlich, sie meinte ihre Arbeit, ihre berufliche Zukunft. Von der anderen offenen Frage in ihrem Leben wusste ich nichts.
    Sie hörte mir sehr aufmerksam zu. Auch als ich zu Ende erzählt hatte, war sie noch eine Weile still.
    »Hast du das später noch weiter verfolgt?«, fragte sie schließlich.
    »Wie denn?«
    Sie nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet. Dann drehte sie sich die nächste Zigarette.
    »Hör zu … « Ich unterbrach mich. »Wie soll ich dich eigentlich nennen? Dhani? Daniela? Dhanavati?«
    »Dhani oder Dhan, wenn dir das lieber ist. Daniela nennt mich niemand mehr.«
    »Dhani. Hör zu. Vielleicht solltest du, bevor du etwas entscheidest, erst mal mit uns nach Århus fahren.« In diesem Moment – das ist die Wahrheit – dachte ich nur daran, dass es für sie am besten wäre. Weil es nie klug ist, Entscheidungen aus einer Laune heraus zu treffen. Sie sollte mit nach Hause kommen, sich mit ihrer Chefin aussprechen, sich meinetwegen mit sämtlichen Freunden beraten. Dann sollte sie sich in Ruhe noch einmal fragen, ob ein Job mit guter Bezahlung, besten Zukunftsaussichten und einem klar umrissenen Arbeitsziel wirklich etwas so Furchtbares war. Die Wünsche meines Bekannten spielten in dem Gespräch keine Rolle. Sein Verdacht, Dhanavati könnte mit internationalem Waffenhandel zu tun haben, war so abwegig, dass ich ihn nicht ernst nahm. Ein Fehler natürlich, aber dazu kommen wir später.
    »Daran habe ich auch schon gedacht. Maria wird sich sowieso nicht so leicht abhängen lassen.« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, doch sie sprach weiter, bevor ich nachfragen konnte. »Wann wollt ihr denn los?«
    »Wenn es nach mir geht, gleich morgen früh.«
    »Okay. Morgen früh.«
    Ich lächelte sie an. »Steffen Wiebecke wird sich freuen. Er will unbedingt mit dir über sein Epidemiemodell reden.«
    Sie rümpfte nur die Nase.
    »Hat dich eigentlich irgendjemand mal Dhanavati genannt?«
    Sie sah weg und winkte dem Wirt. »Nur meine Mutter.«

Date: Sat, 27 Aug 2005 20:43:05 +0200
    From: [email protected]
    To: [email protected]
    Subject: Re: Deine Mail
    Also gut. Ich muss meine Pläne vermutlich sowieso ändern. Wir sehen uns in Aarhus. Entweder Dienstag vor dem Dom, oder ich rufe dich vorher an. Bis bald.
    Dhan
    Adrians Nachnamen habe ich schon von meiner Tante erfahren: Barnes. Die Adresse wäre aber hilfreich.

DHANAVATI
    Genau wie vor zwanzig Jahren. Um elf Uhr nachts, auf dem Weg zum Hotel, hatte sie die Kirche noch kalt und weiß über dem Ort strahlen sehen; jetzt war hier oben alles dunkel, die Straßenlaternen weit entfernt, ihr Licht gefiltert von den Bäumen. Im Schatten der Friedhofsmauer war der Pfad nicht zu sehen, doch ihre Füße kannten ihn noch, jeden Buckel, jede Kuhle.
    Stolpern war nie erlaubt gewesen. Irgendjemand hätte sie hören können – ein Nachbar, der den Hund Gassi führte, ein paar Jungs, die sich hier verbotenerweise betranken –, dann hätte der ganze Ort davon erfahren, und jemand wäre zu Tante Doris gelaufen: Wie alt ist die kleine Daniela jetzt – was, erst sieben? Und da streunt sie nachts draußen herum? Das geht doch nicht, Frau Reinerts, das ist viel zu gefährlich! Sie müssen etwas unternehmen.
    Da war die Bank. Die Kirchturmuhr schlug: das erste Viertel. Heutzutage hätte sie es auch ohne Bank geschafft, aber es sollte alles korrekt sein, also: auf den Sitz – auf die Lehne – auf die Mauer. So. Aufrichten und zwölf Schritte auf der Krone entlang. Ganz ruhig, Gleichgewicht ist eine Frage der Atmung. Auf den Eckpfeiler steigen. Sicheren Stand suchen. Den Kopf weit nach oben recken.
    Höher hinauf konnte man in Marsberg nicht steigen; es sei denn, man fand den Schlüssel zum Kirchturm, und das war ihr nie gelungen. Außerdem wäre es dort drinnen eng und dunkel gewesen, stickig wie vorhin in der Garage … Nein. Sie war immer hierher gekommen. Wenn man den Laternen vor der Kirche den Rücken zukehrte, blickte man

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