Visby: Roman (German Edition)
geradewegs ins Dunkle, die Lichter im Tal waren verborgen, die Silhouetten der Berge kaum vom Himmel zu trennen. Keine Mauern. Keine Stimmen, keine Blicke. Kein Gekicher und Gestöhne, weil sie im Unterricht wieder mal eine Frage gestellt hatte – Fragen zu stellen war hier nie erwünscht gewesen.
Still jetzt. Das war lange vorbei. Hinsetzen, Beine kreuzen, Arme verschränken. Sorgfältig den dunkelsten Himmelsbereich wählen und hinschauen. Bis er sich öffnete. Bis er kein Dach mehr war, sondern Leere.
Weit und offen. Dunkel. Diesen Zustand aufrechterhalten. Still auf dem Pfeiler sitzen, lokalisiert, und diesen Ort zum Zentrum eines Kreises machen. Der sich langsam weitete. Gleichförmig in alle Richtungen, ein Kreis auf einer unendlichen Ebene, homogen und isotrop, der schließlich den Horizont berührte, mit ihm eins wurde; zugleich blieb man ein Punkt, ausdehnungslos.
Wenn man das doch Maria erklären könnte.
Maria.
Maria, Maria. Wie sie sich in alles hineindrängte. In jeden Gedanken und jedes Bild. Als gäbe es auf der ganzen Welt nichts, das nicht über verschlungene Pfade mit ihr verbunden war. Maria, die Chefin. Die Patentante. Die abends an ihrem Bett gesessen hatte, hier in Marsberg, und noch eine Geschichte aus Afrika erzählt hatte, noch eine letzte Frage beantwortet – denn Maria hatte Fragen immer geduldet, darum hatte sie alle wichtigen bis zu ihren Besuchen aufbewahrt, oft monatelang. »Maria, warum fährt Onkel Robert nicht mit dir nach Afrika, statt sich um blöde Frauen zu kümmern, die gar nicht krank sind?« Ein kurzes Zögern und dann eine Antwort auf Englisch, die klang wie eine Zeile aus einem Lied: »Don’t ask me why.« Und gleich darauf, mit einem Lachen in der Stimme: »But don’t ask him either, child.« So dass sie wusste, obwohl sie die Worte nicht ganz verstand, dass sie nun ein Geheimnis hatten. Nur sie zwei. Sie und Maria.
Maria, die mit Frohnert sprach. Nachts auf der Rasenfläche hinter dem Hotel. Maria, die sagte: »Schlaf erst mal drüber«. Die auf der Bank am Feldweg saß und noch einmal erklärte, weshalb sie die EuroShield-Gelder brauchte, weshalb sie keine andere Wahl hatte, als das eine Luxus-Projekt zu opfern, um den Kernbereich ihrer Arbeit zu retten. Luxus. Das war jetzt die Bezeichnung für ihr Epidemiemodell, ihr Projekt. Luxus. Überflüssig.
Nein. Nicht noch einmal, nicht die gesamte Gedankenmühle von vorn. Sie streckte die Beine, rutschte zum Rand des Pfeilers und sprang hinunter. Der Pfad war jetzt deutlich zu erkennen; einzelne Grasbüschel hoben sich grau vom kahlgetretenen Boden ab. Der Trick war, nie zurück zu den Lichtern zu blicken. Ein Stück die Mauer entlang, und man stieß auf den Feldweg; nach rechts über die Wiese; in den Wald hinein; steil bergab.
Hier wurde es vollkommen dunkel. Es hatte schon immer Mut gekostet weiterzugehen, darauf zu vertrauen, dass der feste Untergrund nach wie vor existierte. Den Abhang hinunter, bis man in den Fußgelenken spürte, dass er zu Ende war, dann abbiegen, im stumpfen Winkel nach rechts. Endlich teilten sich die Bäume, der Boden löste sich aus dem Dunkel. Da stand der Festungsturm.
Sie tastete sich durchs holprige Gras, stieg die fünf Stufen hinauf und legte die Hände rechts und links an die Türöffnung. Diesen Teil der Übung hatte sie erst hinzuerfunden, als sie schon im Internat war und nur noch die Ferien in Marsberg verbrachte.
Die Mutprobe. Ins Dunkle hineingehen, in den engen, muffigen Raum, und die Holztür hinter sich schließen. Die Jacke über den Kopf stülpen, dass man die Luft nicht spürte, die durch den Zugang zum Dach herabwehte.
Stillstehen. Bis hundert zählen.
Es roch noch genau wie früher. Feuchter Stein, verschüttetes Bier. Ein Hauch von Pisse. Sie zog die Jacke über den Kopf. Etwas fiel klirrend auf den Fußboden. Sie hockte sich hin und tastete herum. Das Feuerzeug. Sie steckte es ein.
Die Jacke war heruntergerutscht. Egal. Es war sowieso nie eine echte Probe gewesen – man wusste von der Öffnung, der Treppe zum Dach, ob man den Luftzug spürte oder nicht. In der Garage …
Nein. Sie tastete sich zur Treppe vor, gegen das Aufwallen der Panik an. Einundzwanzig Stufen – und raus, schnell, ins Freie, auf Beinen wie Gummi. Die Probe hatte noch nie geholfen, nichts half, es war in ihrem Kopf fest verdrahtet. Es würde immer wieder passieren. Sie lehnte sich an das Geländer, packte die Stange mit beiden Händen. Wind im Gesicht. Atmen. Atmen.
Tief unter ihr die
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