Visby: Roman (German Edition)
hätte, der ihn wollte, hätte sie ihn verschenkt. Warum Dinge aufheben, die man nicht mehr benutzte? Schränke und Kellerverschläge damit vollstopfen, dass man mit jedem Umzug schwerer bepackt war? Die Vergangenheit ließ sich nicht aufbewahren, sie existierte gar nicht. Was existierte, waren Erinnerungen, aber als Teil der Gegenwart, biochemische, elektrochemische Spuren im Gehirn, die im Jetzt wirkten, in dem Geflecht von Interaktionen, das man Ich nannte, dessen Zustand sich kontinuierlich änderte, ein kleiner, sich selbst stabilisierender Wirbel im Fluss. Die Vergangenheit war ein Konstrukt, Erinnerungsspuren, verwoben mit gegenwärtigen Wünschen und Ängsten, verwoben mit gegenwärtigen Sinneseindrücken von Fotos, Schriftstücken, Tonaufnahmen …
Was tat sie dann hier? Wieso holte sie einen Plattenspieler aus dem Keller, um sich Musik anzuhören, die jemand anders vor dreiundzwanzig Jahren gehört hatte? Eine Frau, die selbst als Erinnerung kaum Substanz hatte, weil es so wenige Spuren gab. Ein Pappkarton mit Krimskrams. Ein paar Bilder im Gedächtnis der Tochter, zusammenhanglos. Ein paar boshafte oder verächtliche Bemerkungen von Verwandten. Adrians Erzählungen.
Adrian. Mit den freundlichen Augen, der freundlichen Stimme. Groß und zerrupft. Der immer Zeit für sie hatte. Der mit ihr spielen ging, wenn ihre Mutter meditierte. Der ihr Gutenachtgeschichten erzählte, wenn sie oben in ihrer Dachkammer nicht einschlafen konnte. Hatte es ihn je gegeben? Oder hatte sie ihn erfunden, weil jedes Kind jemanden braucht, der wirklich da ist, den man anfassen kann, der nicht nur stumm ins Zimmer schwebt und gleich wieder hinaus?
Arme Dhani, gleich fangen wir an zu weinen. Da drüben steht der Plattenspieler. Schaffst du es ohne Panikattacke?
Drei Schritte. Bis zu den Stühlen; zwischen die Stühle; dicht an den großen Umzugskarton heran. Jetzt die Taschenlampe ausschalten und einstecken – und atmen, Dhani, weiteratmen, es drang genug Licht durch die Tür herein, man sah, was man sehen musste: den Müllsack mit Teppichresten – zur Seite schieben. Staub, der sich seit eineinhalb Jahren nicht bewegt hatte … Halt die Luft an. Du schaffst das. Die Glühbirne im Gang wird nicht verlöschen … Vorbeugen. Greifen. Zurück. Schnell zur Tür.
Im Gang lehnte sie sich an einen Mauervorsprung, tief atmen, aber da war zu wenig Luft, sie ging weiter, es hämmerte in ihrer Brust, um die Ecke in den Hauptgang, die drei Stufen hinauf, mit Ellbogen und Fuß die Tür aufzerren … und die Treppe hinauf in den Hof.
Luft. Windgeräusche. Nieselregen. Am liebsten wäre sie stehengeblieben, aber der Plattenspieler durfte nicht nass werden. Sie zog die Tür zum Hausflur auf, stieg die Treppe hinauf in den obersten Stock, stellte den Plattenspieler vorsichtig ab und schloss die Wohnungstür auf. Das Wohnzimmer war hell erleuchtet. Sie trug den Plattenspieler zum Couchtisch, öffnete die Balkontür und trat hinaus.
Dunkle Dächer. Schornsteine vor dem Himmel. Ein fast voller Mond schimmerte durch Wolken. Auf der anderen Hofseite schlief eine Möwe, ein stiller heller Fleck auf den Dachziegeln. Im Hof brannte Licht, es war angesprungen, als sie auf den Schalter im Treppenhaus gedrückt hatte: eine Lampe über dem Eingang zum Haus, eine am Schuppen. In den anderen Wohnungen im Haus und im Haus gegenüber war alles dunkel.
Halb zwei. Die Zeit, in der niemand zuschaute.
Sie ging wieder nach drinnen, riss in der Küche ein Stück Küchenkrepp von der Rolle, feuchtete es an und wischte den Staub vom Plattenspieler. Sie stellte ihn neben ihrer Musikanlage auf den Fußboden, verband ihn mit dem Verstärker und der Steckdose, verband das Notebook mit dem Kopfhörerausgang des Verstärkers und schaltete alle Geräte ein. Ihre Ohrstöpsel steckten noch in der Jackentasche, aber für diese Arbeit war der große Kopfhörer besser; sie fand ihn ganz hinten in der Schublade des Kleiderschranks.
Alles bereit. Sie ging zu dem Pappkarton und nahm die Schallplatten ihrer Mutter heraus. Die übrigen Sachen hatte sie sich schon kurz angeschaut, die Schneekugel geschüttelt, den ausgewaschenen bunten Baumwollschal auseinandergefaltet und wieder zusammengelegt, durch das Fotoalbum geblättert. Es roch muffig. Das Album enthielt Aufnahmen von Kindern, unter denen sie ihre Mutter nur erkannte, wenn sie neben Onkel Robert oder der Großmutter stand. Sie hatte sich darauf gefreut, diese Dinge anschauen zu können; und jetzt? Es war alles so lange
Weitere Kostenlose Bücher