Visby: Roman (German Edition)
her. Es war so unwichtig geworden. Tot. Aber warum blieb dann trotzdem diese bohrende Sehnsucht, diese Trauer, die mit nichts in Verbindung stand? Unerklärt, unbeeinflusst – als ginge es ihr gar nicht um Mutter und Kindheit und den unbekannten Vater; aber worum ging es dann?
Jens hatte gewusst, wovon sie sprach. Er hatte die Frage nicht beantworten können, aber er hatte das Gefühl wiedererkannt. Glaubte sie. Vermutete sie. Man müsste noch einmal darüber reden.
Hinten im Fotoalbum lag ein grauer Briefumschlag mit weiteren Fotos. Sie nahm ihn heraus und trug ihn mit den Schallplatten ins Zimmer. Drei waren es. Sie zog die oberste aus der Hülle, wischte sie mit trockenem Küchenkrepp sauber und legte sie auf.
Golden Hour of Melanie. Den ersten Titel hatte man schon viel zu häufig gehört. Sie setzte sich vor dem Notebook auf den Fußboden und startete das Audioprogramm. Eine Zeitlang sah sie den Ausschlägen der Pegelanzeige zu, dann setzte sie den Kopfhörer auf.
It’s the only thing I could do half right, and they’re turning it upside down, Ma.
Viel zu häufig.
Die Fotos im Briefumschlag zeigten erwachsene Menschen. Sie standen auf einer ungemähten Wiese, vor einem hellgelb gestrichenen Holzhaus. Sie waren jung, in grüne oder grüngelbe T-Shirts und flattrige orange-grün-gelbe Röcke oder Hosen gekleidet, dazu Sandalen oder gar keine Schuhe. Lange Haare. Diesmal erkannte sie ihre Mutter. Sie schaute an der Kamera vorbei, auf jedem Foto, ohne zu lächeln; zwischen ihr und den anderen blieb eine Lücke, die offenbar nie jemand füllen mochte.
She would never say where she came from.
Sie kannte diese Musik, kannte jedes einzelne Stück. Nicht nur die wenigen berühmten. Jedes. Jede einzelne Note. Als hätte jemand ihr Leben lang irgendwo im Hintergrund diese Lieder gesungen.
I’m going to Carolina in my mind.
Im Hintergrund ihrer Gedanken, im Hintergrund aller Erinnerungen. Der vagen Bilder von kahlen Räumen. Staub in der Sonne. Dämmerlicht in einer Dachkammer. Dazu stets diese Musik.
Kannte sie die Leute auf den Fotos? Kannte sie das Haus? Hatten sie dort gewohnt? Warum war Adrian nicht dabei? Oder war er dabei, und sie hatte vergessen, wie er aussah, hatte sein Gesicht in ihrem Gedächtnis durch ein anderes ersetzt? Würde sie ihn wiedererkennen, wenn sie sich jetzt mit ihm traf – falls Lee ihn wirklich gefunden hatte; falls er zu einem Treffen bereit war?
I’m not sleepy, and there is no place I’m going to.
Wer von diesen Männern war ihr Vater?
NILSSON
ÅRHUS
29. AUGUST
Der Anruf kam, als ich gerade frühstücken wollte. Eine Viertelstunde später traf ich mich mit ihnen an einem Hot-Dog-Stand auf dem Århuser Domplatz.
Nennen wir sie Schulz und Nagel. Schulz den Großen, Schweren, Nagel den Kleinen, der fürs Reden zuständig ist. Sie tranken Kaffee aus Plastikbechern, und Schulz aß tatsächlich schon einen Hotdog.
Nagel beklagte sich. Über das Tempolimit auf dänischen Autobahnen, über die Langsamkeit dänischer Bürokraten, darüber, dass vor dem Wohnhaus der Zielperson kein Parkplatz zu finden gewesen war, so dass sie abwechselnd in einer zugigen Einfahrt Wache gestanden und dazwischen stundenweise im Auto geschlafen hatten. Das alles bei Regen. Um sechs Uhr früh waren sie endlich von zwei Dänen abgelöst worden, aber um die Zeit hatte es in ihrem Hotel noch kein Frühstück gegeben, nicht einmal Kaffee, und dazu lag das Hotel so weit draußen, dass sie praktisch sofort wieder hatten losfahren müssen, um sich mit mir zu treffen …
»Dann machen wir’s doch kurz«, sagte ich, aber Nagel dachte nicht daran, sich sein Tempo vorschreiben zu lassen. Zuerst musste er mir noch erzählen, wie viel er schon von mir gehört hatte, nur Gutes natürlich, vor allem über den Einsatz im Kosovo, sein bester Kumpel sei auch dabei gewesen. Das war natürlich ein Versuch, so etwas wie Kameradschaft zwischen uns herzustellen – plump, aber nicht völlig wirkungslos, wie ich zugeben muss: Denn auch wenn ich mich im Folgenden nicht von ihnen einspannen ließ, zögerte ich im entscheidenden Moment doch, ihnen die Arbeit zu erschweren. Ein kluges Köpfchen eben, dieser Nagel. Und ein Arschloch natürlich.
Als er spürte, wie ich lockerer wurde, kam er unvermittelt zur Sache: »Und, bist du an ihren Laptop rangekommen?«
»Bin ich nicht, nein.«
Schulz und Nagel wechselten Blicke, und ich fühlte mich tatsächlich beschämt. »Was wollt ihr denn überhaupt von ihr?«
Nagel sah mich
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