Visby: Roman (German Edition)
offensichtlich. Ich hatte mich geweigert, auf Dhanavatis Laptop nach Mails zu suchen. Also sollte er das übernehmen.
Bevor ich auch nur daran denken konnte, einzugreifen, hatte Dhanavati schon ihren Schlüsselbund hervorgeholt und ihn Steffen zugeworfen. »Der mit der grünen Kappe ist fürs Zimmer. Mein Passwort für den Institutsrechner brauchst du auch, hast du was zu schreiben?«
Immer noch rot im Gesicht kramte Steffen einen Stift und einen Zettel hervor und schrieb auf, was sie diktierte. Dann murmelte er etwas, das vermutlich ein Dankeschön sein sollte, und verschwand im Institutsgebäude.
Ich stand da und sah ihm nach. Natürlich hätte ich protestieren müssen. Ich hätte ihm nachgehen und unmissverständlich klarmachen sollen, wie dumm es war, sich von Leuten als Spion einspannen zu lassen, über deren Motive man nichts wusste. Nur dachte ich ja, ich wüsste über Schulz’ und Nagels Motive Bescheid. Ich dachte, sie wollten sich vergewissern, dass Dhanavati keine Komplizin des Waffenhändlers war. Als letzte Vorsichtsmaßnahme, bevor sie selbst mit ihr sprachen. Natürlich hätte es mich misstrauisch machen müssen, dass sie sich hinter meinem Rücken an Steffen gewandt hatten. Gleich nach unserem Treffen am Dom, bei dem sie sich so kollegial gegeben hatten. Ich hätte mich fragen müssen, was sie noch vor mir geheim hielten. Aber so weit dachte ich nicht. Ich war sicher, dass Dhanavati nichts mit internationalem Waffenhandel zu tun hatte. Folglich würde Steffen nichts finden. Folglich schadete es auch nichts, wenn er den Geheimagenten spielte. Es war Dhanavati gegenüber nicht nett. Aber es war harmlos.
So stellte ich es mir jedenfalls vor.
Und das ist fast schon die gesamte Geschichte. Dhanavati und ich gingen essen, plauderten über alles Mögliche und verabschiedeten uns. Ich kehrte ins Hotel zurück und buchte für den nächsten Morgen einen Flug nach Köln. Danach schrieb ich einen Bericht über blind seer für Frohnert, schickte ihn am Ende aber doch nicht per E-Mail, sondern ließ mir für den übernächsten Vormittag einen Termin bei ihm geben, um alles persönlich mit ihm zu besprechen.
Steffen ließ sich nicht blicken. Wie ich später erfuhr, saß er den ganzen Nachmittag über mit Dhanavati zusammen und sprach ihr Epidemiemodell mit ihr durch – bis sie Kopfschmerzen vorschützte, sich aufs Fahrrad schwang und ihm davonfuhr. Ich selbst besichtigte am Nachmittag die Århuser Altstadt, ging dann zum Hafen und schlenderte an Kohlehalden, einem ausrangierten Eisbrecher und mehreren Containerstellplätzen vorbei. Beim Fähranleger setzte ich mich ganz am Ende des Kais auf eine Betontreppe und sah den Seglern zu, die jenseits der äußeren Hafenmauern in der Bucht kreuzten. Ein hübscher Anblick. So trügerisch friedlich.
Um zwanzig nach acht rief Nagel an und meldete, dass Dhanavati nach Hause gekommen war. Wir trafen uns wieder am Dom. Die Geschäfte waren geschlossen, aber die Straßen waren immer noch voller Menschen.
Auf dem Weg durch die Altstadt fragte ich Nagel, ob Steffens Recherchen etwas Interessantes ergeben hatten. Einen winzigen Moment lang brachte es ihn tatsächlich aus dem Konzept. Aber er fing sich sehr schnell. Im bühnenreifen Tonfall eines Mannes, der seinem besten Kumpel schlechte Nachrichten überbringt, teilte er mir die eine wesentliche Tatsache mit, die mir bisher entgangen war und die er angeblich ebenfalls erst an diesem Nachmittag durch Steffen erfahren hatte: dass Dhanavati auf der Suche nach ihrem Vater war.
Laut Nagel hatte sie zu diesem Zweck einen Privatdetektiv engagiert, den sie nur übers Internet kannte – und dieser Detektiv, Leander Schmitz, genannt Lee, hatte anscheinend die Absicht, ihr den Waffenhändler Bengt Eglund aus Riga als möglichen Vater zu präsentieren. Ob Schmitz in gutem Glauben handelte oder im Auftrag von Eglund, ließ Nagel klug in der Schwebe: Zweifel seien jedenfalls angebracht, behauptete er, denn eine rasche Nachfrage bei der örtlichen Polizei habe ergeben, dass Schmitz überhaupt kein Privatdetektiv sei, sondern ein Journalist, der von der Hand in den Mund lebte. Und ein enger Freund eines einheimischen Autohändlers, der nach Ansicht der Polizei das Drogengeschäft in der Region kontrollierte. Und Drogenhändler und Waffenhändler – das wüsste ich ja – bewegten sich nicht eben in unterschiedlichen Welten.
Das alles trug Nagel wortreich und in einem ungeheuren Tempo vor, während wir im Sturmschritt durch die
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