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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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weiter steht meine Mutter … «
    Sie spürte den Moment, in dem er erschrak. Seine Hand zuckte in ihrer, als hätte er sich verletzt.
    »Sie streitet mit jemand. Dann rennt sie weg, und wo sie hinrennt, ist die Wiese zu Ende. Und sie fällt, sie fällt und ist weg.«
    Seine Hand lag jetzt neben ihrer. Zur Faust geschlossen. Sie hätte jede seiner Bewegungen gespürt, doch er schien nicht einmal zu atmen.
    »Ich hatte keine Ahnung, dass du dich erinnerst«, sagte er endlich. Seine Stimme klang fremd. Er zog den Arm weg, rückte zur Seite und stützte die Ellbogen auf die Knie.
    »Dann ist es also wirklich passiert.«
    »Ja. Das ist wirklich passiert.« Er blickte auf seine Hände, knetete sie, als wären sie steif.
    »Wer waren die anderen? Mit wem hat sie vorher gestritten?«
    Er hielt den Blick gesenkt. Und zögerte. Zögerte, weil er erst überlegen musste, was er ihr erzählen wollte. Was nicht. Eben war er ihr noch so nah gewesen. Jetzt saß neben ihr ein Mann, den sie nicht kannte; der ihr Dinge vorenthielt, ihr vielleicht immer schon Dinge vorenthalten hatte, und sie hatte es nur nicht gemerkt, damals, als Kind.
    »Mit wem hat sie gestritten, Adrian?«
    »Das war Nandin.«
    »Einer von euch?«
    »Einer von uns, ja.« Er zögerte wieder. »Giselas Exfreund.«
    Exfreund. Der sie doch sicherlich einmal gern hatte. Der mit ihr stritt und sie auslachte und dann zusah, wie sie auf den Abgrund zurannte.
    »Ist sie absichtlich gesprungen?«
    Er blickte aufs Wasser.
    »Adrian! Ist sie absichtlich gesprungen?«
    »Ich weiß es nicht.« Endlich sah er sie an, und etwas Wärme kehrte in sein Gesicht zurück. »Ich weiß es nicht, Dhani. Wirklich nicht. Sie war sehr wütend, und sie ist wie blind losgerannt, aber … Sie wusste, dass da die Klippen sind. Wir alle wussten es. Wir waren nicht zum ersten Mal dort.«
    Dort. Wo immer dort war. Spielte es eine Rolle? Spielte es eine Rolle, wie viele Einzelheiten sie erfuhr, wenn er die wichtigste Frage nicht beantworten konnte? Er hatte Monate – Jahre – mit ihr zusammengelebt, wieso wusste er nicht, weshalb sie gesprungen war? Konnte man so völlig ahnungslos sein?
    »Es war ein Grundstück am Stadtrand von Visby«, fuhr er fort. »Es gehörte den Eltern von Bengt. Es stand ein Sommerhaus darauf, Bengt hielt dort Meditationskurse ab. Offene Abende, einmal pro Woche. Manchmal fuhr er auch einfach so hin, allein oder mit Indrasena.«
    Wer immer Indrasena war. »Dann war das nicht der Ort, wo wir gewohnt haben.«
    »Nein, nein. Das war auf der anderen Seite von Gotland. An der Westküste. Bei Ljugarn. In einem Haus mitten im Wald.« Seine Stimme klang wieder lebendiger – jetzt, da er über die Zeit davor reden durfte. »Es gehörte auch den Eltern von Bengt. Sie waren sehr reich, eine prominente Familie … «
    So viel wusste sie schon aus Lees Bericht. Eglunds Vater war ein bekannter schwedischer Politiker gewesen, ein Weggefährte von Olof Palme, der sich mitten im Kalten Krieg für Entspannung zwischen Ost und West eingesetzt hatte und nicht wollte, dass sich Schweden zu eng der NATO anschloss. Seine Karriere war an dem Tag zu Ende gegangen, als sein Sohn wegen Rauschgifthandels verhaftet wurde.
    »Bengt ist Bengt Eglund, richtig?«
    Jede Spur eines Lächelns verschwand aus seinem Gesicht. »Das weißt du alles schon.«
    »Ich habe einen Zeitungsbericht von damals gelesen. Darüber, wie er verhaftet wurde. Er war euer Anführer, oder?«
    Er sah sie an, als wäre sie eine Unbekannte, die ohne jedes Recht Erklärungen forderte. Dann lachte er auf. »Das hat uns die Polizei damals auch ständig gefragt. Wer war der Anführer. Wer gab die Befehle. Als wären wir eine Verbrecherbande. Dabei waren wir nur ein Haufen Leute, die gern zusammenwohnten. Klar, unser Lebensstil war nicht so, wie man es kannte – aber wir haben doch niemandem geschadet! Die meiste Zeit haben wir gearbeitet wie alle andern – wir mussten schließlich von irgendwas leben. Nur unsere Freizeit, die haben wir halt nicht vor dem Fernseher verbracht. Wir haben uns nicht zugesoffen, wir haben unsere Kinder nicht verprügelt … Wir wollten in Frieden leben, weiter nichts. Auf unsere Art. Und das war zu viel verlangt.«
    »Ihr habt mit Drogen gehandelt.«
    Er wandte sich mit einem Ruck ab. »Ich nicht.«
    »Aber einige von euch.«
    Er antwortete nicht.
    »Meine Mutter?«
    Das brachte ihn endlich zu ihr zurück, den Adrian von früher. Er sah sie an, sah sie wirklich an, und schien endlich zu begreifen, dass

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