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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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über seine Reisen aus, über die Leute, die er kennengelernt hatte; wovon er lebte; ob er Geld brauchte; ob er diesen Meditationskram wirklich ernst nahm. Du solltest nach Gotland fahren, sagte er schließlich. Bengt hat da seine eigene Gruppe gegründet, die sind alle so drauf wie du. Nur dass man bei ihnen nie genau weiß, ob sie Buddha anbeten oder Bengt. Und während Adrian ihm betrunken zu erklären versuchte, dass man Buddha nicht anbetete, sondern nur wie einen Lehrer verehrte, sagte Nandin: Indrasena ist auch da.
    Adrian fuhr hin. In Visby fand er heraus, dass Bengt regelmäßig offene Meditationsabende abhielt, und wartete an einem dieser Abende vor dem Haus über den Klippen, bei eisiger Kälte, bis die Veranstaltung vorbei war und Bengt als Letzter herauskam.
    Er freute sich, Adrian zu sehen. Er glaubte auch, dass Indrasena sich freuen würde – sie sei viel ruhiger geworden, viel stabiler – , aber er wollte lieber erst mit ihr reden, bevor er Adrian ins Waldhaus einlud. Gleich am nächsten Vormittag ließ er Adrian ausrichten, dass er willkommen war.
    So traf Adrian sie wieder: Indrasena, Gisela und Bengt. In einem einsam gelegenen Haus am Rande eines Urlauberstädtchens. Fünfzehn Menschen lebten dort nach Regeln, die Bengt für sie erfunden hatte, einer Mischung aus klassischen Meditationspraktiken, Bhagwanschen Lehren, vorchristlichen einheimischen Ritualen und noch einigem mehr. Umgeben von seinen Schülern wirkte Bengt ruhiger und abgeklärter; er hörte noch zu, wenn man die alten Fragen aufwarf, lächelte noch über kluge Argumente; aber er diskutierte nicht mehr. Du hast immer nur zwei Möglichkeiten, sagte er zu Adrian, und zwischen ihnen entscheidest du stündlich. Willst du dem, was wir hier tun, weiter eine Chance geben? Oder willst du gehen?
    So einfach.
    Wenn man die Fragen richtig stellt, wird alles einfach, sagte Gisela später.
    Gisela war Bengts eifrigste Schülerin geworden, sie versäumte nie eine Meditation, schwänzte nie den Küchendienst, lächelte nie über einen Witz, über den Bengt nicht gelacht hätte. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gab und Bengt nicht im Haus war, zitierte sie seine Worte, um zu schlichten; der kleine Bengt , nannte Nandin sie deswegen, nicht nur hinter ihrem Rücken, little Bengt . Denn auch Nandin gehörte nach wie vor zu ihnen, zu diesem eng vernetzten komplexen System. Wohin seine Reisen ihn auch führten, mindestens einmal im Monat kam er ins Waldhaus – übernachtete dann in Giselas Zimmer – ; manchmal wohnte er auch monatelang dort und verschwand nur zwischendurch für kurze Zeit. Wenn er da war, beteiligte er sich am Leben der Gruppe; und niemanden schien sein Grenzgängerleben zu stören, am wenigsten Bengt, der eigentlich Beständigkeit lehrte.
    Lernt zur Ruhe zu kommen. Lernt abzuwarten. Hört auf, euch von euren Sehnsüchten jagen zu lassen.
    Adrian versuchte es. Fast zwei Jahre lang. Er stand täglich um halb sechs auf, meditierte eine Stunde lang gemeinsam mit allen, fuhr dann an Werktagen sieben Mitglieder der Gruppe im Kleinbus zu ihren Arbeitsstellen auf Bauernhöfen und in Dorfläden; arbeitete selbst fünf Stunden lang im Hafen von Visby, wo er beim Be- und Entladen half; kaufte auf dem Heimweg ein; reparierte nachmittags im Waldhaus Dachrinnen und Fenster; holte die anderen von der Arbeit ab und verbrachte den Abend mit Singen und Meditieren; und fand immer noch Zeit, um mit Dhani Blaubeeren zu sammeln oder am Strand Verstecken zu spielen – zwischen den Felsen, erinnerst du dich, Dhani? Hohe Felssäulen, aus denen die Ostsee und der Wind steinerne Wesen geformt hatten, einen Bären, einen Affen – erinnerst du dich? Wir gaben ihnen Namen und erfanden Geschichten für sie.
    Erinnerte sie sich? Grauer Stein in einem gleichmäßigen, milchigen Licht – war das eine Erinnerung oder etwas, das sie nach seinen Worten erfand? Er erzählte so schön, er hatte immer wunderschöne Geschichten erzählt, abends, wenn sie nicht einschlafen konnte – weißt du, dass es mal eine Prinzessin gab, die genauso hieß wie du? Und der dämmrige Raum füllte sich mit Bildern, während draußen die Bäume rauschten und unten im Haus gesungen wurde … War das eine Erinnerung? An Gotland? Ganz sicher nicht an Henglinghausen, dort hatte nie jemand gesungen, und es hätte ihm nie jemand erlaubt, ihr gute Nacht zu sagen, wenn sie schon im Bett lag, sie hatte sich immer im Wohnzimmer von ihm verabschieden müssen. Oder hatte sie es erfunden, später,

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