Visby: Roman (German Edition)
als wäre er nur kurz zum Einkaufen fort gewesen, wenige Minuten lang, Zeit ohne Bedeutung. Sie stand auf; im gleichen Moment sah er zu ihr herüber. Sah sie über Parkplatz und Straße hinweg an und wurde ganz still. Nur sein Gesicht begann zu leuchten.
Dieses Lächeln. Unfassbar, dass sie es vergessen hatte. Jetzt kann mir nichts mehr passieren: Das hatte es immer bedeutet. Die Autos verschwammen. Sie rieb sich die Augen. Dann stand er vor ihr, sagte »Dhani« wie früher und nahm sie in die Arme.
»Ich bin Mathematikerin geworden.«
Wie merkwürdig, ihm das erklären zu müssen. Dinge aufzählen zu müssen, die jeder oberflächliche Bekannte über sie wusste. Wie einem Fremden; dabei war alles an ihm vertraut. Die Art, wie er die Augen zusammenkniff, wenn er etwas Heißes trank. Die Höflichkeit, mit der er jeden Menschen behandelte, auch übellaunige wie die Kellnerin des Cafés, die es so offensichtlich unmöglich fand, dass sie sich an den einzigen Fenstertisch setzten, obwohl das Geschirr dort noch nicht abgeräumt war.
Als hätte sie Nacht für Nacht von ihm geträumt. Als hätte sie jede Entscheidung, jedes kleine Ereignis mit ihm besprochen. Niemand sonst – nicht einmal Maria, ganz sicher nicht Robert oder Doris – strahlte so deutlich aus: Du bist zu Hause.
»Ich arbeite an einem Forschungsinstitut in Århus. Seit fast zwei Jahren.«
Die Kellnerin knallte einen Teller mit einer Frikadelle und Kartoffelsalat auf den Tisch. Adrian riss die Senftüte auf und drückte einen gelben Streifen neben das Petersilienbüschel.
Breite Hände. Gründlich gewaschen, aber rissig, und in den Rissen saßen Spuren von altem Dreck. Sie würden sich warm anfühlen, riesig groß. Er war zu ihr gekommen, nur auf einen Anruf hin: Hallo, bist du der Adrian Barnes, der mich früher in Henglinghausen besucht hat? Fünf Sekunden lang war es still geblieben, dann hatte er gesagt: Dhani? Bist du das? Und war am nächsten Morgen ins Auto gestiegen, irgendwo in der Nähe von Husum, und quer durch Norddeutschland nach Rostock gefahren. Zu ihr. Weil sie ihn brauchte.
»Eigentlich war ich ganz zufrieden, und ich dachte, meine Chefin wäre es auch … «
So viele Lücken. Maria und ihre Besuche bei Robert und Doris: nichts wusste er darüber, nichts. Afrika. Die leeren Jahre. Die Hoffnung, in Århus endlich am richtigen Ort angekommen zu sein. Er musste es auch so verstehen. Früher hatte er immer alles verstanden. Nichts, was sie tat, hatte ihn je überrascht.
»Aber jetzt läuft meine Stelle aus, und meine Chefin will sie nicht verlängern. Stattdessen soll ich an ein Institut wechseln, an dem sie Rüstungsforschung betreiben! Dabei hat Maria diese Leute immer verachtet, sie und Timo, diese Institute, die mit ihrer tollen Ausstattung und ihren tollen Gehältern die Besten eines Jahrgangs zu sich locken und sie dann Waffen bauen lassen … Jahrelang habe ich das von ihr gehört, und jetzt sollte ich da plötzlich mitmachen … Und dann, kaum dass ich wusste, was sie vorhat, stand schon der Sicherheits-Oberarsch dieses Instituts vor der Tür, zusammen mit zwei anderen Männern, und sie sagten – sie wollten … «
Falsch, falsch: Davon hatte sie gar nicht reden wollen, und jetzt war alles wieder da. Blitzende Bilder. Dunkelheit. Schreien. Klebriges Blut. Pochen in ihrer Handfläche, sie drückte die Finger in den Verband, schloss die andere Hand darum, bis das Brennen alles erstickte.
»Dhani? Dhani?«
Hände um ihre Hände, so warm, so groß. Ruhig, zuverlässig, bis sie wieder atmen konnte, bis sie die Musik wieder hörte, Radiomusik; bis sie ihn wieder ansehen konnte, und lächeln, und sagen: »Iss erst mal auf.« Als er fertig war, ging er ohne zu fragen zum Tresen und zahlte, kam zurück und nahm ihre Tasche, legte den Arm um sie und ging mit ihr hinaus.
»Ich kann das jetzt nicht alles erzählen.«
Nicht jetzt; vermutlich nie, aber auf keinen Fall in diesem Moment, da endlich das innere Zittern nachließ, der Drang, sich in irgendeiner Ecke zusammenzukrümmen, den sie seit sechsunddreißig Stunden in Schach hielt. Während der Fährfahrten, im Zug, im Bus; in dem Zweibettzimmer im Hostel, dessen zweites Bett zum Glück nicht belegt war, so dass sie die Nacht hindurch am offenen Fenster sitzen konnte, in eine Decke gewickelt, und simple Rechenaufgaben lösen: die Zahl der Sekunden in einem Kalenderjahr bestimmen; den größten gemeinsamen Teiler der zwei Zahlen finden, die entstanden, wenn man das heutige Datum und
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