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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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ihr Geburtsdatum jeweils ohne Punkte und Nullen zusammenschrieb; oder Marias Geburtstag und die Postleitzahl von Marsberg; zwischendurch aufstehen und hin und her gehen, ans Fenster treten, kühlen Wind im Gesicht spüren; rauchen und auf die dunkle Glasfassade des Bürohauses gegenüber schauen und atmen, immer weiter gleichmäßig atmen.
    Nun klang das Zittern endlich ab, und Wärme sickerte herein, durch ihren Rücken, durch seine Hände. Adrians Wärme. Er saß hinter ihr auf den breiten Stufen, die vom Kai zum Wasser hinabführten. Den rechten Arm fest um sie gelegt. Irgendwo hinter ihnen hupten Autos, Menschen gingen vorbei: weit entfernt, harmlos.
    »Später vielleicht. Nicht jetzt.«
    Er widersprach nicht. Er hatte sie nie zu etwas gedrängt. Sie schloss die Augen, drehte sich ein wenig nach rechts, so dass sie den Kopf bei ihm anlehnen konnte. Er strich ihr die Haare hinters Ohr. Sein Holzfällerhemd war weich, es roch nach Waschmittel, ganz leicht nach Benzin.
    Wo bin ich gewesen?
    Die Erinnerung leuchtete auf, als hätte jemand ein Bild in ihren Kopf hineinprojiziert. Blass und doch voller Details. Tanzende und funkelnde Staubkörner, ein Fleck auf einer Grastapete. Adrian, wie er zur Haustür hereinkam, helles Sonnenlicht im Rücken. Sie lief zu ihm und fasste ihn am Hosenbein.
    Er hockte sich hin. Na, wo bin ich gewesen? Sie schnupperte an seinen Haaren, seiner Jacke und riet: Im Labyrinth.
    Labyrinth. Ein Wort ohne Bedeutung. Und doch brachte es eine solche Traurigkeit mit. Traurigkeit vermischt mit Wärme. Labyrinth, Staub im Sonnenlicht, der Geruch von Holz, Adrians Hände … Sie suchte nach anderen Gesichtern, anderen Stimmen: ihre Mutter, müsste sie sich nicht vor allem an ihre Mutter erinnern? Warum tauchte, wenn sie Mutter dachte, immer nur dieses andere Bild auf, Schnee auf totem Gras, das Auto, der Mann; ihre Mutter, wie sie davonlief. Waren das Erinnerungen, oder waren es Träume, Kinderträume, die nichts widerspiegelten als ihre Ängste?
    »War meine Mutter mit jemand zusammen? Fest?« Sie öffnete die Augen und rückte ein wenig herum, so dass sie ihn ansehen konnte. »Als ihr euch angefreundet habt?«
    Warst du mit ihr zusammen? Das hätte sie fragen wollen. Bist du mein Vater? Aber der Schritt ins verminte Gebiet war zu groß.
    »In Indien, meinst du?«
    »Ich weiß nicht. Wart ihr damals in Indien?«
    »Als ich sie kennengelernt habe? Ja.«
    »Und hast du … «
    Er schüttelte den Kopf, nachdrücklich. »Ich hätte es dir gesagt, Dhani. Glaub mir. Wenn ich dein Vater wäre, hätte ich es dir gesagt. Schon vor Jahren. Deinen Verwandten hätte ich es gesagt. Dann hätten sie mich nicht wegschicken können.«
    »Sie haben dich weggeschickt?«
    »Ja! Hast du das nicht gewusst? Deine Großmutter fand es gut, dass ich dich besuche, aber dein Onkel wollte es nicht. Ich war ihm nicht … solid genug.«
    Solid. Er sprach es englisch aus. Und wie ein Echo hörte sie ihre Großmutter reden, im Wohnzimmer, während sie draußen im Flur stand und an der nicht ganz geschlossenen Tür lauschte: Selbst wenn er hundertmal der Vater ist. Es geht erst, wenn er in geregelten Verhältnissen lebt. Zwei Tage später – Sicherheitsabstand – hatte sie ihre Großmutter gefragt, was geregelte Verhältnisse waren. Ihre Großmutter hatte diesen kühlen Blick auf sie gerichtet, mit dem sie einem zu verstehen gab, dass sie einen durchschaute; dann hatte sie ruhig aufgezählt: feste Arbeit, fester Wohnsitz, Ehefrau oder zumindest Verlobte.
    »Meine Großeltern dachten, du wärst mein Vater. Aber ihnen warst du auch nicht solid genug.«
    »Ich weiß, Kleines, ich weiß.«
    Er zog sie an sich, hielt sie fest. »Es tut mir so leid. Ich hatte es deiner Mutter versprochen, aber es hat nicht funktioniert … «
    Was hast du ihr versprochen, dachte sie, dass du mich zu dir nimmst, falls ihr etwas zustößt? Ein unverheirateter Mann, der nicht mit mir verwandt ist? Wie habt ihr euch das vorgestellt? Aber sie fragte nicht, sie wollte es gar nicht wissen. Sie lehnte sich an und schloss wieder die Augen. Die Wellen klatschten gegen die unterste Stufe. Alles wird gut, kleine Dhani, alles wird gut. Komm zu Adrian, und alles wird gut. Vielleicht war es das, was sie sich gewünscht hatte, nur das. Nach Hause kommen. Jemanden haben, der alles heil machte.
    »Ich habe dieses Bild im Kopf.« Sie hielt die Augen geschlossen. »Wir stehen auf einer Wiese – du, ich, noch ein paar Leute. In bunten Sachen. Es liegt Schnee. Ein Stück

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