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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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als sie so oft an ihn dachte und sich wünschte, er käme sie noch einmal besuchen? Sie sah ihn so deutlich vor sich … Aber seine Haare waren in dem Bild von Grau durchzogen.
    »Wie alt bist du?«, fragte sie. »Wann bist du geboren?«
    Er wandte sich ihr zu, ohne Ärger darüber, dass sie auf seine Frage nicht einging. Der vertraute Adrian von damals, der nichts, was sie sagte, je unwichtig fand. »1954. Ende September. In ein paar Wochen werde ich einundfünfzig.«
    Fünf Monate älter als ihre Mutter. »Und was du mir gerade erzählt hast, wann war das?«
    »Ich bin im Februar ’81 ins Waldhaus gezogen.«
    »Dann warst du siebenundzwanzig, als du mit mir gespielt hast.«
    »Siebenundzwanzig, achtundzwanzig. Warum?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Und Bengt?«
    »Er war ein oder zwei Jahre älter.«
    »Indrasena?«
    »Jünger. Bestimmt zwei Jahre jünger als ich. Der älteste von uns allen war Nandin. Er war damals schon über dreißig.«
    Sie sah an ihm vorbei aufs Hafenbecken. Auf das dunkle Wasser, die Segelboote an den Stegen, die Masten, die vor dem Himmel hin und her kippelten, ein wenig nach rechts, ein wenig nach links, regellos. »Meine Mutter wäre dieses Jahr fünfzig geworden. Im Februar.« Als sie von den Klippen sprang, war sie so alt, wie ich jetzt bin – das sagte sie nicht. »Was hat sie damals gemacht? Im Waldhaus? Ist sie auch arbeiten gegangen?«
    Er schüttelte den Kopf. »O nein, das wollte sie nicht. Deinetwegen.«
    Da war ein winziges Zögern vor dem letzten Wort. Und er wandte den Blick ab. Eine Lüge. Vielleicht. Oder nur Unsicherheit?
    »Sie hat viel für die Gemeinschaft getan. Sie hat die Mahlzeiten geplant. Die Einkäufe. Sie hat eingeteilt, wer wann wo sauber machte und in der Küche half. Sie hat das Geld verwaltet, unser gemeinsames Geld, von dem wir alles bezahlt haben, was wir zum Leben brauchten. Sie hat die Sachen geschneidert, die wir im Haus anhatten – schöne Sachen, bunt und bequem, sie hat den Stoff gekauft und für uns alle genäht. Sie wusste immer, wo alles war … «
    Die Hausfrau. Hausfrau, genau wie ihre Mutter und alle weiblichen Reinerts vor ihr. Musste man wirklich von zu Hause weglaufen, in Indien einem Guru lauschen, ein uneheliches Kind zur Welt bringen, sich am Ende der Welt im Wald verkriechen – um Hausfrau zu werden?
    »… sie hat Bengts Vorträge auf Band aufgenommen und abgetippt, sie fand, man sollte ein Buch daraus machen … «
    Hausfrau und Sekretärin. War es ihnen allen so ergangen? Hatte ihre jahrelange sogenannte spirituelle Suche sie nur dorthin geführt, wo sie am Ende ohnehin angekommen wären?
    Hausfrau.
    Hafenarbeiter.
    Waffenhändler?
    »Und sie hat sich um Indrasena gekümmert.«
    Indrasena. Die lebensfrohe Indrasena. Als Adrian ins Waldhaus zog, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln und einem Kuss auf die Wange. Lief dann an ihm vorbei ins Freie, in viel zu großen Stiefeln hinaus in den Schnee, und verstreute Brotkrumen für die Vögel. Wann immer sie sich später auf dem Flur oder in einem Zimmer begegneten, lächelte sie ihm zu; stiller als früher, sehr viel stiller, aber es war immer noch ein schönes Lächeln. Bengt hatte ihn gebeten, mit ihr nicht über die Zeit in Indien zu sprechen, also tat er es nicht, aber sie schien auch sonst über nichts reden zu wollen; manchmal fragte er sich, ob das Lächeln verbergen sollte, dass sie nicht mehr genau wusste, wer er war. Sie ging nicht arbeiten, half nur ein wenig im Haus: den Tisch decken, Gemüse putzen. Sie unternahm lange Spaziergänge, mit Bengt oder allein, sammelte Blumen und buntes Laub und schmückte damit den Meditationsraum. Sie malte, große abstrakte Bilder, die immer an Feuer, an Licht denken ließen; auch eine Wand im Meditationszimmer hatte sie so bemalt. Manchmal, selten, sah man sie tanzen, immer allein, zu unhörbarer Musik; häufiger legte sie eine der wenigen Schallplatten auf, die es im Waldhaus gab, setzte sich in den leeren Meditationsraum und hörte still zu; ab und zu gesellte sich Gisela zu ihr, und dann sangen sie gemeinsam, Gisela mit klarer Stimme, Singen war das Einzige, bei dem sie alles Zögern hinter sich ließ; Indrasena leiser und brüchiger.
    Eines Nachmittags, Monate nach seinem Einzug, kam Adrian zufällig aus dem Badezimmer im ersten Stock, als Bengt gerade das Zimmer betrat, das er gemeinsam mit Indrasena bewohnte. Über Bengts Schulter hinweg sah Adrian, dass Indrasena zusammengekrümmt auf dem Bett lag und am ganzen Körper zuckte. Sie rief

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