Visby: Roman (German Edition)
Transporter fuhr. Adrian bremste hart; sie sprang aus dem Wagen und lief zu dem Mann.
Es war Nandin. Ungewohnt bürgerlich in kurzem dunklem Wintermantel und dunkler Hose. Als er Gisela rufen hörte, drehte er sich um und kam ihr ein paar Schritte entgegen.
Die anderen stiegen aus und folgten Gisela, langsam und unentschlossen. Adrian hielt Dhanavati an der Hand. Gisela und Nandin schienen zu streiten; ihre Worte waren nicht zu verstehen.
Sie schlug ihm ins Gesicht.
Er packte sie am Handgelenk.
Sie riss sich los. Rannte davon. Nicht auf die Gruppe zu, sondern in die andere Richtung.
Rannte in weiten, leichten Schritten.
Noch ein Schritt. Noch ein Schritt.
Dann war sie weg.
»Wir schrien«, sagte Adrian. »Wir schrien alle. Wir liefen hin. Einer von den Männern versuchte runterzuklettern. Er wäre fast selbst abgestürzt.«
Sie hatten sich wieder einen Sitzplatz gesucht, an einem anderen Hafenbecken, auf einer Bank. Rentner führten Hunde spazieren, Touristen fotografierten einen alten Kran. Adrian saß vorgebeugt da, die Ellbogen auf den Oberschenkeln; sie saß neben ihm, die Füße auf die Sitzfläche gezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Ihr war kalt. Immer noch kalt; und er redete und erzählte, wieder mit dieser flachen Stimme; überschüttete sie mit Details. Wer wo stand. Wer was sagte. Wie Nandin in sein Auto stieg, diesen dunklen Volvo, der in seiner Bürgerlichkeit so schlecht zu ihm passte, und in ein Funkgerät sprach. Ja, es war ein Funkgerät, Dhani. Kurz darauf kam ein Krankenwagen. Minuten später die Polizei. Ein Bergungstrupp der Feuerwehr; vielleicht war es auch nicht die Feuerwehr, das hatte er nicht mehr genau gesehen, er war zum Haus hinübergegangen, mit ihr an der Hand; er hatte ihr in der Küche Milch warm gemacht; er erzählte ihr sogar, dass er Honig hineingerührt hatte. Später hatten die Polizisten sie abgeholt und zur Wache mitgenommen. Dort hatte man sie voneinander getrennt.
Bengt war verhaftet. Nandin unauffindbar. Indrasena wurde von ihren Angehörigen in die Privatklinik zurückgebracht. Den nichtschwedischen Mitgliedern der Kommune wurde gesagt, dass man sie nicht mehr brauchte und sie gut daran täten, das Land zu verlassen.
Adrian blieb trotzdem noch einige Tage, zusammen mit zwei Frauen aus Südschweden. Aber hier wurde die Geschichte verworren; was sie in dieser Zeit im Waldhaus taten, verstand sie nicht. Vielleicht strichen sie einfach ziellos umher, sprachlos, jeder für sich. Zufällige Überlebende eines Kriegs, deren Dorf verwüstet wurde, die noch nicht begreifen können, dass sie von nun an heimatlos sind. Erst als ihnen der Strom abgestellt wurde, stiegen sie in den Transporter, fuhren mit der Fähre aufs Festland und weiter nach Malmö, verkauften das Auto, teilten das Geld und trennten sich.
»Er hat euch an die Polizei verraten, oder? Nandin hat herausgefunden, dass Eglund mit Heroin handelt – jeder von euch hätte das herausfinden können, ihr hättet euch nur ein Mal fragen müssen, woher das Geld für Indrasenas Stoff kam. Habt ihr geglaubt, das bezahlen die Eltern? Aber ihr habt weggesehen. Alle. Nur Nandin nicht, er hat begriffen, was los war, und ist zur Polizei gegangen. Warum? Weil er auf Bengt eifersüchtig war? Oder hatte er einfach genug von euch allen, von eurer … «
Sie verstummte, sie fand nicht das richtige Wort. Blindheit, Leichtgläubigkeit? Treue zu dem einen Mann, der ihnen stets versichert hatte, sie seien auf dem richtigen Weg? Die Angst, ohne ihn ins Nichts zu fallen?
Adrian sah sie an, so verzweifelt, als wäre es eben geschehen. »Ich weiß es nicht, Dhani. Ehrlich. Ich weiß es nicht. Glaub mir, ich habe mich das oft gefragt. Warum ich so blind war. So verdammt blind. Ich habe ihm einfach vertraut … Gisela muss das noch viel mehr schockiert haben, und sie war sowieso schon bedrückt, in den Wochen davor, sie mochte kaum noch mit mir reden – es war immer noch die alte Geschichte, du weißt schon, sie und Bengt und Indrasena, sie kam nicht darüber hinweg … «
Die alte Geschichte. Seit Indien, seit ihrer ersten Begegnung mit Bengt, immer dieselbe alte Geschichte. Nichts, worüber man reden musste. Die Dinge sind, wie sie sind, Gisela, entweder man kommt mit ihnen klar, oder man geht.
So einfach. Nicht wahr, Gisela? Adrian? Bengt? So lächerlich einfach. Und keiner von euch hat es geschafft.
Adrian, der Indrasena liebte.
Ihre Mutter, die Bengt liebte.
Indrasena, die das Heroin liebte.
Bengt, der
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