Visby: Roman (German Edition)
möglicherweise Indrasena liebte, der aber noch viel mehr das Geld liebte, das ihm der Heroinhandel einbrachte.
Nandin, der sie alle verriet. Der lachte, als ihre Mutter ihn anschrie. Er hätte sie festhalten können. Er hatte direkt neben ihr gestanden.
Aber er hatte gelacht.
Ihr kotzt mich an, dachte sie. Ihr kotzt mich an.
Sie stand auf. »Ich muss los. Ich muss vor fünf am Überseehafen sein und mein Ticket abholen.«
Es kostete ihn offensichtlich Mühe, dieser Kurve zu folgen, der Kurve zurück in die Realität. Es dauerte Sekunden, bis er fragte: »Wo willst du denn hin?«
»Nach Lettland. Zu Eglund. Er lebt jetzt in Riga.«
Einen Moment lang war sein Gesicht völlig leer. Dann stand er auch auf und legte ihr die Hände auf die Schultern. Vorsichtig und doch voller Wärme. »Willst du nicht erst mal mit zu uns kommen?«
Die Versuchung war groß. Sich von ihm umarmen lassen. Weinen und weinen und mit den Fäusten auf ihn einprügeln, mit Kinderfäusten auf einen Mann, den nichts jemals umstoßen konnte. Auf den Adrian von früher. Weinen und sich trösten lassen und mit ihm davonfahren, an einen Ort, an dem ihr nichts geschehen konnte. An dem alles wieder heil wurde. Einen Ort im Phasenraum, der durch keinen einzigen denkbaren Pfad mit dem Hier und Jetzt verknüpft war.
Ja klar, kleine Dhani. Unverknüpft. Nur hast du leider Adrians vollen Namen in mindestens einer E-Mail erwähnt. Und Jens und seine Arschlöcher haben deine Mails gelesen. Was meinst du, wie viele Stunden sie brauchen, bis sie seine Adresse wissen und bei ihm vor der Tür stehen?
Ganz unabhängig von der Frage, wer damit noch gemeint war: zu uns .
Sie fasste nach seinen Händen. Zog sie von ihren Schultern, aber hielt sie fest. »Ich muss los«, sagte sie noch einmal.
Er sah sie lange an. Löste seine Hand aus ihrer verletzten und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
»Du könntest mich zum Hafen fahren. Und mir Geld leihen.«
Es roch nach Abgasen und nassem Beton. Und schon nach Meer. An dem Terminalgebäude, vor dem sie warteten, rollten Lastwagen vorbei. Sie sah ihnen nach, wie sie den Platz überquerten und die Laderampe der Fähre ansteuerten. Am liebsten wäre sie ihnen zu Fuß gefolgt, aber das war nicht erlaubt. Der Angestellte am Fahrkartenschalter hatte darauf bestanden, dass ein Kollege sie hinüberfuhr.
»Findest du es wirklich so wichtig?«, fragte Adrian neben ihr. »Von wem die Samenzelle war?«
»Du hast es doch auch wissen wollen.« Sie drehte sich um. »Oder nicht? Du hast sie gefragt, sonst wüsstest du nicht, dass du nicht mein Vater bist.«
Sie sah, wie er schluckte. Hatte er wirklich geglaubt, sie würde das nicht erraten? Dass ihre Mutter es damals in Indien ähnlich gehalten hatte wie Indrasena? Vielleicht nicht aus Freude am Flirten und Feiern – aber sie hatte doch sicher dazugehören wollen, zu diesem eng vernetzten Grüppchen, sie hätte keinen ihrer Freunde abgewiesen. Nicht Bengt, nicht Nandin, nicht Adrian.
Ihre Mutter, die Stille. Die Verständnisvolle.
Sie schaute wieder zur Laderampe. Zugmaschinen und Anhänger in allen Farben. Alt und dreckig oder blitzend neu. Kein einziger Pkw dazwischen.
»Ich frage mich einfach, wie Bengt es aufnimmt. Wenn du nach all den Jahren auftauchst und fragst, ob er dein Vater ist.«
Sie hob die Schultern. »Ich werde es dir berichten. Du darfst nur nicht die URL verlieren.« Sie hatte ihm die Internetadresse eines Forums aufgeschrieben, in dem Hobbyautoren ihre Texte veröffentlichten. Dort würden Jens und Kollegen sicherlich nicht mitlesen; dort las niemand mit, der nicht selbst Texte verfasste.
Dass Eglund inzwischen mit Waffen handelte, hatte sie ihm nicht erzählt.
»Es kommen doch nur die beiden in Frage, oder? Nur er und Nandin.«
Was für eine Auswahl von Vätern.
Ein Waffenhändler.
Ein Polizeispitzel.
Ein junger Mann trat aus dem Terminalgebäude und steuerte auf sie zu.
»Da kommt mein Fahrer.«
Sie umarmten sich. Adrian hatte feuchte Augen.
»Danke, Adrian. Danke für alles.«
»Pass auf dich auf, Kleines. Melde dich bald.«
Vom Deck der Fähre aus sah sie ihn auf dem Anleger stehen, ein einzelner Fußgänger, während hinter ihm die letzten Lastwagen über die Laderampe auf das oberste Autodeck fuhren. Neben ihr lehnten zwei Fernfahrer am Geländer und beobachteten, wie ein Kollege sein Gespann an seinen Stellplatz zu rangieren versuchte und immer und immer wieder neu ansetzen musste, weil er nicht nah genug an die Nachbarreihe
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