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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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aus. »Komm. Ich bringe dich wieder nach oben.«
    Sie stand auf, ohne sich helfen zu lassen, und ging mit sorgfältigen Schritten zur Tür. Eglund folgte ihr. Die Treppe hinauf. Die zweite Treppe hinauf. Den Flur entlang; noch einmal zurück und ins Bad, während Eglund draußen wartete; dann ins Zimmer. Sie setzte sich auf das Sofa.
    Er blieb vor ihr stehen. »Bist du Vegetarier, oder hattest du Angst, dass wir dich vergiften?«
    »Was?«
    Er nahm den Teller mit den ungegessenen Chicken Nuggets und Pommes frites vom Nachttisch. »Kein Wunder, dass der Grappa so anschlägt. Ich werde mal sehen, was noch im Haus ist.«
    Aber er ging nicht. Er stand vor ihr und sah sie an, als wüsste er plötzlich nicht mehr weiter.
    Sie legte den Kopf in den Nacken. »Du erinnerst dich an sie, oder? An meine Mutter?«
    Er zögerte und lächelte dann, wie gegen seinen Willen. »Ich erinnere mich an dich. An diesen Blick, vorhin. Deine Mutter war krank, du standest vor ihrem Zimmer und wolltest nicht, dass ich reingehe. Du warst höchstens so groß« – er zeigte es mit der flachen Hand – »ich hätte dich umpusten können, aber du hast mich angesehen wie der liebe Gott persönlich. Meine Mutter braucht Ruhe, hast du gesagt. In perfektem Englisch. Du hattest es wohl vom Arzt gehört … «
    »Was war mit ihr? Wieso war sie krank?«
    Er zögerte wieder. Das Lächeln war fort. »Du erinnerst dich nicht daran, richtig? Nicht an mich, nicht an das Haus, vermutlich kaum an deine Mutter. Eigentlich an nichts aus dieser Zeit. Also was spielt es für eine Rolle? Wieso befasst du dich nicht lieber mit deinem jetzigen Leben? Das scheint mir chaotisch genug. Grab doch nicht noch Probleme aus, die nichts mit deiner Gegenwart zu tun haben.«
    »Ich erinnere mich, wie sie von den Klippen gesprungen ist. Daran erinnere ich mich genau.«
    Einen Moment lang glaubte sie, sie hätte gewonnen. Dann wandte er sich ab und ging zur Tür.
    »Bist du reingegangen? Damals?«
    Er drehte sich um. »Damals warst du – wie alt? Drei oder vier. Einer Vierjährigen würde auch Juri nichts tun. Aber jetzt bist du siebenundzwanzig. Und es hat dich niemand eingeladen. Janis zeigt dir nachher noch ein paar Fotos, und du wirst ihm sagen, ob einer deiner Freunde dabei ist. Morgen früh bringt dich jemand in die Stadt. Wenn du klug bist, fährst du dann nach Hause und vergisst, was vor über zwanzig Jahren passiert ist. Aber das geht mich nichts mehr an. Und es ist mir auch egal. Schlaf gut, Dhanavati.« Er zog die Tür leise, aber mit Nachdruck hinter sich zu. Und schloss von außen ab.

ANNIKA
    Der Golfplatz von Ljugarn ist eine Lichtung im Wald: Man fährt auf der Hauptstraße landeinwärts, bis die Häuser aufhören, dann zwei Kilometer eine Schotterstraße entlang. Am Golfplatz zweigt eine überwucherte Fahrspur ab, die noch tiefer in den Wald hineinführt. Carl hat mir den Weg auf der Karte markiert, ich finde ihn leicht.
    Das Waldhaus steht für sich allein auf einer Wiese, umgeben von Fichten. Ein zweistöckiges Holzhaus, langgestreckt, aber letztlich nicht groß, mehr als fünfzehn Menschen können hier kaum gelebt haben. Der hellgelbe Anstrich blättert, graues verwittertes Holz schaut hervor. Aber das Dach scheint heil, die Fensterscheiben sind nicht zerbrochen. Von Carl weiß ich, dass die Eglunds es eine Zeitlang an Urlauber vermietet haben, nachdem ihr Sohn verhaftet und die Kommune aufgelöst worden war. Inzwischen steht es leer – aber Ingela schaut regelmäßig vorbei, sie achtet darauf, dass es nicht verfällt. Ingela, die einmal zu der Kommune gehört hat und später zurückgekehrt ist und sich den Eglunds als Hausverwalterin angeboten hat. Weil sie an keinem anderen Ort mehr heimisch werden konnte. Vielleicht.
    Als ich aussteige und die Wagentür zuschlage, huscht der Knall wie ein aufgeschrecktes Tier über die Lichtung und verliert sich zwischen den Bäumen. Ein Eichelhäher krächzt. Dann senkt sich Stille über das Haus, die Wiese, den Wald, eine Stille, die mich umschließt und mich von der übrigen Welt isoliert.
    Seit gestern Abend, seit den Augenblicken auf der Mole, bin ich mir immer fremder geworden. Als ich im Hotel im Bett lag – einem Bett, das niemandem gehört, weil schon zu viele darin geschlafen haben – und dem Tröpfeln der Nebelfeuchte lauschte, dem Knarren der Äste, dem seltsam stillen Meeresrauschen, konnte ich spüren, wie die eigentliche Annika in Westerkoog einzuschlafen versuchte, Adrians Bettseite zugewandt und sein

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