Visby: Roman (German Edition)
Kopfkissen dicht neben sich, so dass sie sich wenigstens einreden konnte, einen Rest seines Geruchs wahrzunehmen. Und nun ist sie wach und geht ihren alltäglichen Aufgaben nach, besucht vielleicht in diesem Moment den Optiker in Tönning, dessen Schaufenster sie regelmäßig gestaltet, und bespricht mit ihm, ob er in diesem Jahr nicht statt der etwas abgenutzten Krippe eine Pappmaché-Karawane aufstellen möchte, die drei Weisen aus dem Morgenland mitsamt ihren Dienern, Packeseln und Kamelen.
Während hier vor dem Haus der Eglunds die andere, fremde Annika durch hohes, bleiches Gras und tote Brennnesseln geht, in der Hand den Schlüssel zur Hintertür, den die eigentliche Annika nie angenommen hätte. Im Begriff, ungebeten in Adrians Vergangenheit einzudringen.
Eine Treppe führt zu einer kleinen Veranda vor dem Hauseingang hinauf. Zwischen den Stufen wächst Unkraut. Die Fenster sind schmutzig. Auf der Wiese zwischen Haus und Fahrweg haben sich Bäume angesiedelt, die Birken sind bereits größer als ich. Ein Schuppen, weit rechts, ist in sich zusammengestürzt und fast unter Brombeergestrüpp verschwunden.
Von der Veranda verläuft ein Pfad zum Fahrweg hinüber, eine kaum sichtbare Spur, in der das welke Gras flacher liegt und Brennnesseln abgeknickt sind. Offenbar betritt Ingela das Haus durch die Vordertür, wenn sie herkommt und nach dem Rechten sieht. Zur Hintertür führt kein Pfad, ich kämpfe mich durch Gestrüpp, trete auf zerbrochene Dachziegel und einmal auf eine alte Wäscheklammer aus Holz. Tau sickert in meine Schuhe. Die Hintertür ist nicht weit von der rechten Hausecke entfernt. Das Schloss knackt und hakt, die Tür kreischt, als ich dagegendrücke.
Eindringlingsalarm.
Der Eingang führt direkt in die Küche. Steinfußboden, eine altmodische Doppelspüle aus Porzellan, um deren Abfluss sich ein rostbrauner Ring gebildet hat. Über der Spüle zwei Hängeschränke, beide leer, andere Möbel gibt es nicht mehr. Durch eine zweite Tür betrete ich einen düsteren Flur, schaue rechts und links in die Zimmer. Nichts, nur Staub und tote Fliegen. Es riecht nach feuchtem, moderndem Holz.
Der Flur mündet in die Eingangshalle. Eine Treppe führt nach oben, an ihrem Fuß steht eine Tür halb offen. Im Vorbeigehen werfe ich einen Blick hindurch und sehe eine bemalte Wand.
Ich stoße die Tür weit auf und trete ein. Ein großer Raum, mit Fenstern zur Vorderfront und zur Seite. Diffuses Sonnenlicht fällt herein. Das Gemälde nimmt die rechte Wand ein, es ist kreisrund und reicht bis an die Decke. Der äußere Teil erinnert an ein Mandala: mehrere ineinandergefügte Ringe aus unterschiedlichen Symbolen, stilisierten Tieren, Blüten, Menschen. Weiter innen verschwimmen die Formen, und die Farben werden intensiver, von dunklem Blau wechseln sie über Meerblau und Türkis zu Rottönen, Goldtönen, fast weißem Gelb.
Himmelsfarben. Sonnenuntergangsfarben. Fein abgestimmt. Als würde man aus einer komplizierten, düsteren Welt durch einen Tunnel ins Licht blicken.
Einige Schritte vor der Wand liegt eine große runde Steinplatte auf den Dielen, auf der sich ein Gebirge aus Wachs erhebt. Dicke Kerzen und schlanke hohe, viele so weit heruntergebrannt, dass ihre Dochte im Gebirge versunken sind. Daneben zwei Metallschalen, eine mit krümeligen Resten von Verbranntem, die andere mit etwas, das wie zerdrücktes Orangeat aussieht, aber nach Harz duftet. Streichhölzer und eine in Silberfolie verpackte Rolle, die mit Charcoal beschriftet ist.
Vor den Kerzen und den Metallschalen, nicht weit von dem Kamin in der rechten Wand, liegt ein Sitzkissen auf dem Boden. Ich sehe sie vor mir, wie sie hereinkommt: Ingela, die Verwalterin, nach ihrem Rundgang durch das Haus. Zehn Jahre älter als ich, wie Adrian. Kurze Haare? Grau geworden? Zunächst geht sie zum Kamin, nimmt Anmachholz aus dem Korb, schichtet es zu einem kleinen Haufen, schiebt ein Stück Birkenrinde darunter, zündet es an. Geht zu den Kerzen hinüber und zündet sie an, kehrt zum Kamin zurück und legt größere Scheite auf. Etwas fahrig stelle ich mir ihre Bewegungen vor, im Geist ist sie immer schon beim nächsten Schritt. Anders, ganz anders als Adrian, der jede Arbeit, auch die alltäglichste, mit Aufmerksamkeit ausführt. Dem darum nie ein Feuer wieder ausgeht, der sich nie schneidet oder mit dem Beitel verletzt. Wäre er bei ihr, würde er ihr die Streichhölzer aus der Hand nehmen, das Holz ein wenig umschichten, ein anderes Stück Rinde wählen, dann
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