Visby: Roman (German Edition)
gern hatte – natürlich, das auch –, aber vor allem, weil er sich in Nina verliebt hatte. Sie hatte ihm nur einmal anbieten müssen, ihren Nachtisch mit ihm zu teilen – bei seinem ersten Besuch in Westerkoog, am Ende eines quälenden Mittagessens in unserer Küche, bei dem keiner wusste, worüber man reden sollte. Er verlegen und auf der Hut, ich misstrauisch und erst recht auf der Hut, Nina stumm und verwirrt, weil sie nicht verstand, was mit den Erwachsenen los war. Während ich die Suppenteller abräumte, sagte sie plötzlich: »Willst du auch?« und schob ihm ihre Glasschale mit Vanilleeis und pürierten Himbeeren hin. Ihr Lieblingsnachtisch. Es gab nur noch die eine Portion. Adrian lehnte lächelnd ab, aber sie gab nicht nach, sie rutschte vom Stuhl und holte ihm einen Löffel, und dann saßen sie da und löffelten Eis, immer schön abwechselnd, Nina passte auf. Ich sah ihnen zu. Irgendwann hob er den Kopf und lächelte mich an, vorsichtig, als wollte er fragen: Darf ich es noch einmal versuchen? Ich lächelte zurück. Wie hätte ich nein sagen können.
Ninas Held. Aber zwei Jahrzehnte vorher hat er bereits dieses Zimmer tapeziert. Für Dhanavati. Dort liegt sie, unter dem kleinen Giebelfenster, zusammengerollt auf einer Matratze. Über ihr tanzen und torkeln Schneemänner über die Dachschräge. Sie ist drei oder vier.
Ihre Mutter kommt herein. Gisela. Blass und schmal in einem flattrigen Kleid. Es ist bunt, aber die Farben verschwimmen im Dämmerlicht. Sie streicht ihrer Tochter über den Kopf, so leicht, dass sich kaum ein Haar bewegt. »Gute Nacht«, sagt sie mit müder Stimme, richtet sich auf und geht hinaus.
Die Treppen hinunter. In den großen Raum mit der bemalten Wand, zu Adrian, Eglund und all den anderen. Sie sitzen im Halbkreis, Kerzen brennen, sie singen. Ihre Stimmen wehen in die Dachstube herauf – und Giselas Stimme erhebt sich über die anderen, rein und hell klingt sie jetzt, wie befreit, und Dhanavati liegt still und hört ihr zu. Sie schläft nicht, sie lauscht der Stimme ihrer Mutter, die weiter und weiter davonfliegt, während ihr Zimmer und das ganze Haus immer tiefer im Dunkeln versinken.
Da fällt ein Streifen Licht auf die Dielen. Die Zimmertür knackt. Adrian kommt herein. »Schläfst du?«, fragt er – dabei weiß er genau, dass sie wach ist, aber es gehört zum Spiel, dass er fragt. Dhanavati schüttelt den Kopf. Adrian stellt eine Kerze in einem Messinghalter neben der Matratze ab und setzt sich auf den Fußboden. Dhanavati rutscht auf ihn zu, er beugt sich vor – ihre Köpfe sind so nah beieinander, dass man ihre Worte draußen nicht hört.
»Habe ich dir je von der Prinzessin erzählt, die genauso heißt wie du?«
Und dann fing er an zu erzählen. Vor über zwanzig Jahren. Dhanavati hat es mir beschrieben, als sie bei uns war. Ein wahres Knäuel von einer Geschichte, kompliziert und verschlungen, allabendlich weitergesponnen. Die Abenteuer der Prinzessin Dhanavati, die hoch in den Bergen in einem Schloss aus Schnee und Eis wohnte.
Achtzehn Jahre später habe ich gehört, wie er die Geschichte Nina erzählte. Die gleiche Geschichte. Nur dass die Prinzessin Nina hieß.
DHANAVATI
Sie stand auf dem Fünfmeterturm eines Schwimmbads, allein. Tief unter ihr das Becken, eine dunkle Grube: Es war Nacht. Jemand klopfte, und sie sprang; und in dem Augenblick, da sie sich abstieß, erkannte sie, dass das Becken leer war. Dass sie auf Beton aufschlagen würde. Sie fiel, ihr Herz raste, sie fiel immer schneller.
Und landete auf einem Bett. Fuhr hoch, da war die Dachluke, ein graues Rechteck in der Nacht; kühle Luft wehte herein. Im Metallrahmen spiegelte sich ein wenig Licht, der Mond vielleicht oder eine Laterne.
Durch den Spalt unter der Tür drang ebenfalls Licht.
Sie saß und wartete darauf, dass ihr Herzschlag sich beruhigte.
Im Haus war es still.
Aber es hatte geklopft.
Oder nicht?
Wer sollte klopfen?
Sie wartete.
Nichts.
Sie stand auf, tappte zur Tür, drückte die Klinke hinunter.
Die Tür ließ sich öffnen.
Sie zog sie einen Spalt weit auf. Lauschte. Nichts. Sie öffnete die Tür weiter und schaute hinaus. Der Flur war leer und unbeleuchtet, erst über der Treppe brannte Licht.
Im Schloss steckte kein Schlüssel.
Sie drückte die Tür wieder zu und überlegte. Tastete im Dunkeln nach ihrer Kleidung und zog sich an. Ihre eigene Kargohose, ihre Jacke. Jemand hatte die Sachen gewaschen, Janis hatte sie ihr getrocknet gebracht, als er gekommen war, um ihr
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