Visby: Roman (German Edition)
hätten wir nie … «
Aber sie hatte es noch zu deutlich im Ohr. Ich habe nicht vor, nett zu sein, nur weil ich deine Mutter gekannt habe. »Gestern hast du anders geredet. Nachdem du wusstest, wer ich bin.«
»Ich weiß. Es tut mir leid … « Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er die Entschuldigung sofort wieder wegwischen. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Tu ich auch nicht.« Sie sah ihn an. Wie man in einen Spiegel schaut. Gab es da irgendetwas von ihr? Die Augenfarbe, vielleicht. Seine Haare waren zu hell, der Mund zu breit und zu gerade, die Ohren … Wer kannte schon die Form der eigenen Ohren? Müsste man nicht eine Verbindung spüren, irgendeine Art von Wärme? Und da war nichts, definitiv nichts. Sie beugte sich vor. »Aber keinen Stress: Ich will es gar nicht verstehen. Weißt du eigentlich, wie sich das anfühlt? Wenn dich so ein Sadist bedroht und du weißt, er kann tun, was ihm einfällt, du hast keine Chance, dich zu wehren? Warst du schon mal auf der falschen Seite? Oder sitzt du immer nur in deinem Chefsessel und passt auf, dass dir niemand zu nahe kommt?«
Und nun war doch eine winzige Reaktion zu erkennen, ein Pendelausschlag, zu schwach, um das System in Bewegung zu setzen. »Das ist aber eine dumme Frage, Dhanavati. Ich war fünf Jahre lang im Gefängnis.«
»Soll ich dich etwa bedauern? Du hast mit Heroin gehandelt – du hast deine eigene Freundin süchtig gemacht – deinetwegen ist meine Mutter von den Klippen gesprungen – und jetzt kommst du her und erzählst mir … Ach, was rede ich überhaupt mit dir.« Sie stand auf.
Er war eine halbe Sekunde nach ihr an der Treppe, hielt sie am Ärmel fest, und als sie sich losriss und zurückwich, blockierte er den Weg nach unten.
»Du wolltest die Wahrheit hören, kleines Mädchen. Und jetzt läufst du weg?«
»Red nicht mit mir wie mit einem Kind!«
»Du benimmst dich wie eins! Du bist zu mir gekommen und hast Fragen gestellt. Was hast du denn geglaubt, was du herausfindest – dass deine Mutter mit Buddha geschlafen hat?«
Sie holte aus, aber er schaffte es mühelos, den Schlag abzufangen. Sie wich noch weiter zurück, er machte einen Schritt auf sie zu, blieb stehen und fuhr sich erneut mit der Hand übers Gesicht.
»Es tut mir leid. Wirklich. Ich wollte nicht schlecht über deine Mutter reden. Ich hatte sie gern. Aber … «
»Du hast dich einen Scheißdreck für sie interessiert! Du hast sie allein nach Haus fahren lassen – ihr Kind allein kriegen – du hast sie nicht mal gefragt, ob es von dir war!«
»Natürlich habe ich sie gefragt. Aber sie musste ja immer alles mit sich allein abmachen! Sie hat mir gesagt, vermutlich wäre Nandin der Vater. Rainer. Der Mann, mit dem sie zusammen war. Wieso hätte ich ihr nicht glauben sollen? Woher sollte ich wissen, dass sie mir etwas vorlog, dass sie die ganze Zeit diese Wut in sich hineinfraß? All die Jahre dachte ich, wir wären Freunde – ich konnte mich immer auf sie verlassen, sie hat sich um Indrasena gekümmert wie eine Schwester – dabei muss sie krank vor Eifersucht gewesen sein, sonst hätte sie nie … «
Er verstummte abrupt, atmete tief ein und sagte sehr sachlich: »Vermutlich weißt du gar nicht, wovon ich rede. Indrasena und ich waren seit unserer Schulzeit zusammen. In Indien hat sie angefangen … «
»Heroin zu spritzen. Ich weiß. Aber was wolltest du eben sagen? Was hätte meine Mutter nicht getan, wenn sie nicht eifersüchtig gewesen wäre?«
Er zögerte. »Das willst du gar nicht wissen.«
Fast hätte sie wieder zugeschlagen. »Verdammt! Kannst du nicht mal mit deinen Machtspielen aufhören und einfach meine Frage beantworten?«
Doch er zögerte weiter. Vermutlich wusste er gar nicht mehr, wie man das machte: offen mit jemandem reden, ohne vorauszuberechnen, welche Antwort den größten Vorteil einbrachte.
»Gut. Wie du willst. Deine Mutter hat versucht, Indrasena wegen Heroinhandels verhaften zu lassen. Nur ist der Plan schiefgegangen. Ich bin im Gefängnis gelandet.«
Ihr Herz hämmerte plötzlich so laut, dass sie ihre Stimme wie aus der Ferne hörte. »Sie hat gewusst, dass du mit Heroin handelst? Sie hat das die ganzen Jahre hindurch gewusst? Und nichts gesagt?«
Er lachte auf. Er schien sich tatsächlich zu amüsieren. »Nein, Dhanavati. Ich habe nicht mit Heroin gehandelt. Ich habe immer nur gerade so viel gekauft, wie Indrasena brauchte. Der Drogendealer unter uns war Nandin. Schon immer. Seit wir alle in Indien
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