Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
Vom Netzwerk:
Dezember. Der Parkplatz ist leer, das Clubhaus, eine Holzhütte, ist verschlossen. Niemand, der mich fragen könnte, weshalb ich hier in der Kälte im Auto sitze, Stunde um Stunde.
    Carl hat nur den Kopf geschüttelt, als ich ihn bei meiner Rückkehr vom Waldhaus gefragt habe, ob er Ingela das Foto schon gezeigt hat: So schnell sind wir hier nicht, Annika. Offenbar arbeitet Ingela in einem Supermarkt in Visby, morgens fährt sie früh hinüber und kommt am Nachmittag zurück. Heute Abend will Carl mit ihr reden. Morgen beim Frühstück wird er mir sagen, was sie geantwortet hat.
    Warum die Eile, Annika?
    Ich weiß es selbst nicht. Gestern war ich noch so sicher, dass ich Adrian hier finden würde. Als könnte ich im Boden den Widerhall seiner Schritte spüren, als würde in den Stimmen der Menschen etwas von seiner Stimme mitschwingen. Heute ist das alles verblasst. Vielleicht liegt es nur daran, dass sich der andere Adrian in den Vordergrund schiebt: der im Waldhaus gelebt hat, der mit der drogensüchtigen Indrasena und ihrem Drogenhändler – ob das nun Eglund war oder Nandin – und der geduldigen Gisela unter einem Dach gewohnt hat, der Adrian, den ich nur aus Dhanavatis und Nilssons Berichten kenne. Vielleicht werde ich diesen Adrian hier finden, und er wird mir so fremd sein, dass ich sage: Bleib in Ljugarn, komm nicht zu uns zurück.
    Vielleicht. Aber wäre nicht selbst dieser Adrian zu mir ins Hotel gekommen? Sobald Ingela ihm von Carls Anruf erzählt hat? Von der Frau aus Deutschland, die nach ihm fragt? Würde er sich wirklich vor mir verstecken? Und wenn ja: Mit wem habe ich dann all die Jahre zusammengelebt?
    Es ist kalt. Der Kaffee, den ich in einem Pappbecher aus dem Ort mitgebracht habe, ist ausgetrunken. Von den zwei Zimtschnecken ist nur eine halbe übrig, die Wasserflasche enthält nur noch wenige Schlucke. Zwei Mal bin ich schon ausgestiegen und auf dem leeren Parkplatz umhergegangen, damit mir warm wird, aber jetzt wage ich es nicht mehr. Ingela könnte mich bemerken, bevor ich sie kommen höre, und gewarnt sein. Und einfach umkehren.
    Zwanzig vor vier. Die Sonne ist vor einer Stunde hinter den Kiefern jenseits des Golfplatzes verschwunden. Der Dunst, der sich um die Mittagszeit in den Schatten der Bäume zurückgezogen hat, kriecht wieder hervor. Er stiehlt der Welt ihre Kontraste, stiehlt ihr das Licht. Es ist längst zu dunkel, um im Auto zu lesen, aber ich muss die Ausdrucke und Berichte auch gar nicht mehr lesen. Ich kenne sie fast auswendig. So oft habe ich sie auf Hinweise durchgekämmt, sie hin und her gewendet und mit dem verglichen, was mir Dhanavati erzählt hat, als sie bei uns in Westerkoog war, was mir Nilsson bei unserem letzten Treffen verraten hat.
    Immer ist das Ergebnis das gleiche.
    Falls ein Fehler in meinen Überlegungen steckt, werde ich das jetzt nicht mehr herausfinden. Jetzt hilft nur noch, auf Ingela zu warten und ihr die richtigen Fragen zu stellen.
    Halb fünf. Sich das Denken zu verbieten ist sinnlos. Erst recht, sich zu versichern, dass man alles bedacht hat. Kann man jemals alles bedenken? Was ist, wenn sie für ihre Ausflüge zum Waldhaus weder Auto noch Fahrrad benutzt? Wenn sie zu Fuß geht, quer durch den Wald, auf Pfaden, die ich nicht bemerkt habe, die sie gut kennt und auch bei Dunkelheit findet? Pfade, die nicht am Golfplatz vorbeiführen? Vom Ortsrand bis zum Waldhaus sind es auf geradem Weg kaum mehr als zwei Kilometer. Was ist, wenn sie längst im Haus ist, Kerzen anzündet und meditiert, und wieder geht, ohne dass ich sie bemerke?
    Ich öffne das Seitenfenster. Es ist so still. Nicht einmal die Bäume rascheln im Wind. Zehn Minuten vor fünf. Sicher hat sie schon Feierabend. Im Auto ist es ebenso kalt wie im Freien. Wenn ich jetzt den Motor anlasse, um zu heizen, wird sie es hören. Es hören und erraten, dass ich auf sie warte.
    Ich schließe das Fenster, ziehe den Zündschlüssel ab, trinke den letzten Schluck Wasser, stecke die Bäckertüte in die Außentasche meiner Jacke, nehme die Taschenlampe vom Beifahrersitz und steige aus.
    Der Lichtfleck der Lampe huscht über Bäume. Dann über Büsche, die niedrige Mauer entlang, die den Parkplatz vom Fahrweg trennt. Eine Lücke in der Mauer markiert die Einfahrt, ich präge mir die Richtung ein und schalte aus. Der Parkplatz ist mit grobem Kies bedeckt, bei jedem Schritt kicke ich Steine davon, ich hebe die Füße höher und gehe stetig geradeaus. Im Freien ist es nie vollständig dunkel: Die Spitzen der

Weitere Kostenlose Bücher