Viscount und Verfuehrer
wieder in ihm hoch. Er dachte an die kalte, harte Erde, die seinen Fall aus dem Fenster des Gasthauses gebremst hatte. An Tristans Schrei, als er versucht hatte, sich in die Freiheit zu kämpfen, und gescheitert war. An die durchnässten, eiskalten Nächte, die er auf dem Weg nach London durchmachte, immer im Ungewissen über das Schicksal seines Bruders. Und als er London erreicht hatte und sich auf die Suche nach seiner Mutter machte ...
Christian schloss die Augen und versuchte, den schmerzlichen Widerhall der Vergangenheit auszusperren. Langsam schwanden die Erinnerungen. Er atmete tief durch und öffnete die Augen.
Reeves beobachtete ihn ruhig. „Tut mir leid, Mylord.“ „Schon gut“, erwiderte Christian, vor Verlegenheit kurz angebunden. Er nahm eine alte Kiste aus der Schublade und stellte sie auf den Tisch. „Mein Bruder und ich wurden von unserem spielsüchtigen Hauslehrer verkauft. Tristan hat sich geopfert, damit ich fliehen konnte. Er wurde zur Seefahrt gepresst.“
„Während Sie verschwanden.“
Christian rang sich ein bitteres Lächeln ab. „Das habe ich wohl irgendwie getan: Ich bin im Untergrund von London verschwunden. “
„Ich weiß nicht, was Sie alles durchmachen mussten, aber angenehm war es sicher nicht.“
„Angenehm?“ Christian lachte. „Sie sind wirklich der Meister der Untertreibung, Reeves.“
„Eine notwendige Gabe in meinem Beruf, Mylord. Es freut mich jedoch, dass Sie sich, was Ihnen als Kind auch widerfahren ist, erstaunlich gekonnt durchgeschlagen haben.“ Christian zuckte mit den Schultern, eher um die verkrampften Muskeln zu lockern, als um Reeves zuzustimmen. „Allerdings. Und nun möchte ich beweisen, dass Mutter unschuldig war. Sie saß als Verräterin im Gefängnis; angeblich hatte sie Umgang mit den Franzosen. Später wurde die Anklage fallen gelassen, aber da war sie schon gestorben, allein. Irgendjemand muss sie angezeigt haben. Vermutlich wünschte diese Person ihren Tod und verfiel dann auf diese praktische Methode, ihn herbeizuführen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.“
„Darf ich fragen, wie Sie diese Person finden wollen?“ „Natürlich.“ Christian öffnete die Kiste. Darin lagen eine emaillierte Schnupftabaksdose, ein mit einem rosa Bändchen zusammengehaltener Stapel Briefe und eine zerrissene Uhrkette. „Das ist alles, was meine Mutter bei ihrem Tod hinterließ.“
Christian fuhr mit dem Finger an dem Stapel Briefe entlang. „Als ich in London ankam, ging ich sofort nach Newgate. Sie war bereits tot, zwei Wochen davor am Fieber gestorben.“ Wenn Christian die Hand auf die Kiste legte und die Augen schloss, konnte er die Verzweiflung von damals wieder spüren, hatte wieder den bitteren Geschmack des Todes, der Niederlage im Mund. „Einer der Aufseher hat sich gut an sie erinnert. Er hatte die Kiste und hat sie mir verkauft.“
Zehn Pence hatte er dafür hinlegen müssen, jetzt eine lachhafte Summe. Doch für einen zehnjährigen Knaben kurz vor dem Verhungern hätten es genauso gut tausend Pfund sein können. Aber er hatte unbedingt etwas zur Erinnerung an seine Mutter haben wollen, und so hatte er sich darangemacht, das Geld aufzutreiben. Er hatte alle Anstrengung daransetzen müssen, alle List, deren er fähig war, und er hatte dabei seine Moral und seine Unschuld verloren - doch am Ende hatte er dem Aufseher die Kiste und die Schätze darin abkaufen können.
„Ich bin sicher“, sagte Reeves in die entstandene Stille, „Ihre Mutter hätte sich darüber gefreut, dass ihre Besitztümer nun in Ihrer Hand sind.“
„Sie war in Newgate, Reeves. Und keiner wollte ihr helfen. Weder ihre angeblichen Freunde noch ihr Liebhaber.
Nicht einmal der Mann, der mich und Tristan gezeugt hatte.“ Christian hob die Hand. „Ich weiß, ich weiß. Mein Vater - wenn man ihn denn so nennen kann - hätte vielleicht gern geholfen, aber er hatte sich so weit aus unserem Leben entfernt, dass er nicht zur Verfügung stand.“
Reeves nickte.
„Wie es auch passiert war, sie war allein. Sie verkaufte ihren Schmuck, damit sie eine halbwegs trockene Zelle bekam. Danach verkaufte sie ihre Kleidung und ihre Schuhe. Am Ende hatte sie nichts mehr außer Lumpen ... “ Seine Gefühle überrollten ihn.
Aus Erfahrung wusste er, dass er nichts tun konnte, als sie hinzunehmen, zu ertragen, den Schmerz durch sich hindurchzulassen. Er atmete tief durch, strich über die Briefe, das rosa Band, mit denen sie sie einst eigenhändig zusammengebunden hatte.
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