Viscount und Verfuehrer
„Angezogen sind Sie auch schon.“
Beth lächelte, als sie den leisen Tadel in Annies Stimme hörte. „Ich bin durchaus in der Lage, mich selbst anzuziehen, weißt du.“
„Die Frage ist nicht, ob Sie es können, sondern ob Sie es soll’n.“ Annie betrachtete sie von oben bis unten. „Ich hatte recht gestern: Es geht um einen Mann“, verkündete sie dann in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Beth sah an ihrem blauen Tageskleid herab. „Wie kannst du das wissen? Ich meine“, verbesserte sie sich hastig, „natürlich geht es nicht um einen Mann, aber wie kommst du darauf?“
„Weil Sie noch letzte Woche gesagt haben, der Ausschnitt von dem Kleid wär zu tief. Und jetzt haben Sie es doch angezogen. Na also. Ein Mann.“
Beth machte ein ärgerliches Geräusch. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
Annie nahm die Bürste in die Hand. „Soll ich Ihnen für Ihren Mann die Haare hochstecken, egal hinter wem Sie her sind?“
„Ich bin hinter keinem Mann her.“ Zumindest hatte sie kein Schäferstündchen im Sinn. Sie wollte die Motive des Viscounts ergründen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass der Viscount sich ihr nicht nur deswegen genähert hatte, um ihr ein paar Komplimente zu drechseln. Was eigentlich recht bedauerlich war. Wenn er sich ernsthaft für sie interessiert hätte, hätte sie es sich vielleicht noch einmal anders überlegt. Aber das spielte jetzt keine Rolle - schließlich verfolgte er andere Motive, dessen war sie sich sicher.
Obwohl ihr seine Aufmerksamkeiten leider ziemlich schmeichelten, war sie nicht so naiv zu glauben, dass er ihr wegen ihrer schönen blonden Haare oder anderer Albernheiten zu Füßen lag.
Nein, der Mann hatte andere Gründe! Aber wenn er es nicht auf ihr Vermögen abgesehen hatte, worauf dann? Sie runzelte die Stirn. Sobald sie Annies nachdenklichem Blick begegnete, reckte sie die Nase in die Luft. „Ich bin hinter keinem Mann her. Wenn du es unbedingt wissen musst, ich bin der Wahrheit auf der Spur.“
Annie drehte Beths Haar zu einem sauberen Nackenknoten auf, steckte ihn fest und verzierte ihn mit einer blauen Seidenrose. „Wenn Sie nicht hinter einem Mann her sind, haben Ihre Pläne, egal wie sie aussehen, wenigstens mit einem Mann zu tun, das steht fest.“
Die Zofe trat einen Schritt zurück, um ihr Kunstwerk zu bewundern. „Ist ja nicht schlimm, hinter einem Mann her zu sein. Ich hab auch schon den einen oder anderen verfolgt. Mein zweiter, Clyde Darrow, das war ein fürchterlich schüchterner Kerl. Ich hab mich ihm praktisch an den Hals werfen müssen, sonst hätte der keinen Blick für mich übriggehabt.“ Annie tätschelte sich die roten Löckchen. „Aber als er mich dann endlich bemerkt hatte, konnte er gar nicht genug von mir kriegen.“
„Klingt wie die wahre Liebe.“
„Ach, Liebe war das überhaupt nicht. Eher Lust und ein bisschen Freundschaft. Aber ich war trotzdem mächtig traurig, nachdem er gestorben ist.“ Annie hielt inne und sah zur Decke, als versuchte sie sich an die Einzelheiten zu erinnern. „Vom Fieber dahingerafft, genau.“
„Ich dachte, er wäre vom Dach gefallen, während er einen losen Dachziegel festklopfen wollte.“
„Das war mein erster Mann, Peter Pool.“
„Ah. Tut mir leid.“
„Macht doch nichts. Ich bring sie selber andauernd durcheinander. Nein, Clyde hat sich das Fieber nach einem Hahnenkampf in Stafford-Upon-Wey eingefangen. Stellen Sie sich vor, der Dummkopf hat auf einen Hahn gesetzt, der Pechvogel hieß!“ Annie zog ein finsteres Gesicht. „Das ist ja, als würde man dem Schicksal ins Gesicht spucken!“ „Hast du ihn geliebt?“
„Nein, erst nicht. Nach einer Weile könnt’ ich ihn dann schon recht gut leiden, mehr aber auch nicht.“
„Warum wolltest du ihn dann heiraten?“
Annie wirkte überrascht. „Ich war schließlich eine Witwe. Und er war ledig, hatte gutes Geld, aber keinen, der ihm sein Essen gekocht oder das Bett gewärmt hat. Und wir haben uns wirklich recht gern gemocht.“
„Und das hat gereicht? Sich zu ... mögen?“
„Kommt darauf an, was man sonst noch so gemeinsam hat“, erklärte Annie mit schelmischem Zwinkern.
„Ich dachte immer, die Liebe wäre Grundvoraussetzung für eine gute Ehe. Zumindest hat das mein Großvater immer gesagt.“
„Und Ihr Vater? Was hat der gesagt?“
„Der starb, als ich noch jung war. Alles, woran ich mich bei ihm noch erinnere, ist, dass er anscheinend alle Bücher in Großvaters
Weitere Kostenlose Bücher