Vision - das Zeichen der Liebenden
haben. Wir können die Höhle finden und die weiße Feuerkrone stehlen. Wir können unsere Feinde besiegen.«
»Du vergisst einen wichtigen Punkt: Nur ein Kurile kann dieses Buch lesen.«
»Ja.« Erik nickte. »Es wäre ideal gewesen, wenn Alex mitgemacht hätte. Aber er ist nun mal nicht mehr da, also müssen wir allein klarkommen. Denk an deine Mutter, Jana. Sie hat es alleine geschafft, das Buch zu lesen und auf dem Wind zu reiten. Ich bin mir ganz sicher, dass du es auch könntest. Schließlich stammst du durch Agmar auch von den Kurilen ab. Wenn wir das Buch finden, dann brauchen wir Alex vielleicht gar nicht.«
Jana runzelte skeptisch die Stirn. »Ich glaube nicht, dass wir das Buch finden, Erik. Wieso sollte sich das Buch von uns finden lassen?«
»Warum nicht? Wir haben kein Unrecht begangen und wir können nichts für die Fehler unserer Eltern. Das Buch hat keinen Grund, uns zu meiden. Wir müssen es zumindest versuchen, oder?«
Jana nickte halbherzig. »Wenn wir wenigstens wüssten, wo wir mit der Suche anfangen sollen.«
»Aber das wissen wir doch.« Eriks Augen funkelten abenteuerlustig. »Es gibt ein uraltes Gebäude, den sogenannten Turm der Winde. Dieser achteckige Turm stand von jeher in Verbindung mit den Kurilen und ihrer Kunst. Wenn das Buch sich irgendwohin geflüchtet hat, dann dorthin.«
»Ich glaube, diesen Ort kenne ich!« Jana schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Als ich bei Alex war, hatte ich eine Vision. Es ist noch nicht lange her. Wir standen in einem achteckigen Turm und vom Fenster aus waren die ältesten Gebäude unserer Schule zu sehen.«
Erik musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Eine Vision gemeinsam mit Alex? Absichtlich?«, fragte er, betont gleichgültig.
Jana grinste ihn an. »Na ja, wie du weißt, war das Tattoo ein ziemliches Problem für uns. Ich hab ihm erzählt, dass es noch eine andere Möglichkeit gibt, zusammen zu sein… eine ungefährlichere Möglichkeit.«
»So wie damals mit mir«, sagte Erik kaum hörbar.
Jana nickte. Sie grinste jetzt nicht mehr, sah Erik aber weiter herausfordernd an. »Am Anfang haben wir… Na ja, du weißt schon, wir waren miteinander beschäftigt«, fuhr sie fort. »Aber dann wurde Alex auf einmal abgelenkt, keine Ahnung, warum. Ich glaube, er hat etwas gesehen… Etwas, das ich nicht sehen konnte.«
»Vielleicht warst du nur zu ›beschäftigt‹.« Eriks Spott war verletzend. »Ehrlich gesagt verstehe ich gar nicht, wie Alex sich ablenken lassen konnte… Wenn du nur halb so gut warst wie bei mir, muss er aus Stein sein.«
Jana drehte sich von ihm weg, den Kopf hoch erhoben. »Jetzt reicht’s«, sagte sie scharf. »Du hast kein Recht, mir irgendwas vorzuwerfen. Ich gehöre dir nicht! Ich hab dir nie gehört…«
Sie brach ab. Dann spürte sie, wie Erik ihr sanft über die Haare strich.
»Entschuldige.« Seine Hand glitt langsam über ihre Wange und ihren Hals in ihren Nacken. »Du hast recht, es steht mir nicht zu, dir Vorwürfe zu machen… Außerdem ist das alles, wie es aussieht, wohl Vergangenheit. Aus und vorbei.«
Jana schüttelte die Hand ab, sie wandte sich ihm wieder zu. »Kann schon sein, dass es vorbei ist, aber für mich ändert das nichts«, erwiderte sie schneidend.
Erik machte keinen neuen Versuch, sie zu berühren, sondern hielt ihrem Blick mit starrer Miene stand. »Wenn du im Turm gewesen bist, findest du vielleicht noch mal hin«, sagte er nach einer Weile. »Das wäre zumindest ein Anfang.«
»Ich habe es versucht, später, ohne Alex, aber es ging nicht«, gab Jana widerstrebend zu. »Ich habe mich an den Schulgebäuden orientiert, die ich während der Vision vom Fenster aus gesehen hatte. Irgendwann hatte ich sogar das Gefühl, ich hätte die Stelle gefunden, aber dann stand ich wieder nur in einem leeren Innenhof.«
Erik erhob sich, wobei er sich ein Lächeln abrang. »Das ist doch schon mal was. Wir gehen noch mal in diesen Innenhof, Jana, und zwar zusammen. Diesmal finden wir den Turm, da bin ich mir sicher. Du hast keine Ahnung, wie stark wir beide zusammen sein können… Was wir gemeinsam alles erreichen können.«
Kapitel 5
Eine Wolke schob sich vor den Mond und schluckte sein Licht bis auf einen diffusen, gespenstischen Schimmer. Im Schutz einer alten Kastanie beobachteten Jana und David den Schulhof. Wie er da so dunkel und verlassen vor ihnen lag, wirkte er seltsam fremd auf sie. Jana spürte, wie Davids Finger sich um ihre schlossen, und war froh, dass sie ihn mitgenommen hatte.
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