Vision - das Zeichen der Liebenden
weiß, hat sie mir beigebracht. Aber mit David verband sie noch etwas anderes… die Kunst. Für David sind seine Tattoos Selbstzweck. Es ist ihm egal, welche Konsequenzen sie haben können; es sind Herausforderungen, Ziele, die er sich steckt. Meine Mutter war auch ein bisschen so. Bei mir ist es anders. Ich benutze die Tattoos, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Das ist das Einzige, was mich interessiert.«
»David wird sich freuen, wenn du ihm von meiner Vision erzählst. Jetzt hat er bekommen, was er wollte: Er hat mir die Information entlockt, auf die er gehofft hat.«
Jana nickte abwesend. Sie wirkte nicht sonderlich begeistert. »Die Vision ist ein erster Schritt«, sagte sie. »Aber solange wir das Geheimnis des Steins nicht lüften, wird uns das nicht viel nützen.«
»Zumindest wisst ihr jetzt, wer meinen Vater auf dem Gewissen hat und wahrscheinlich auch eure Eltern.«
»Ja, aber den Verdacht hatten wir schon eine ganze Weile. Wer außer Ober hätte es sein können?« Janas Pessimismus war ansteckend.
»Und es gibt wirklich keinen Weg, an die Vision in dem Stein zu kommen? Ich meine… Wenn ihr das nicht schafft, kann es vielleicht irgendjemand anderes.«
»Meinst du, ich würde etwas so Wichtiges jemandem anvertrauen, der nicht zu meiner Familie gehört?« Jana presste die Lippen zu einem schmalen Lächeln zusammen. »Nein, irgendwann schaffen wir es schon. Wir müssen einfach weiter unsere Fähigkeiten trainieren, das ist alles.«
»Vielleicht seid ihr noch zu jung.«
Jana musste lachen. »Zu jung?«, wiederholte sie. »Nein, glaub mir, das ist nicht der Grund.«
Alex’ Kopf war plötzlich ganz leer. »Jetzt sag bloß nicht, du bist tausend Jahre alt oder so was…«, flüsterte er.
Jana lachte wieder, diesmal noch lauter als beim ersten Mal. »So ein Quatsch! Nein, natürlich nicht. In meinem Leben gelten die gleichen Gesetze wie bei allen anderen, Alex. Ich bin so alt, wie ich aussehe, und so ›real‹ wie jeder andere Mensch. Ich dachte eigentlich, das hättest du schon neulich nachts gemerkt, als wir uns geküsst haben…« Sie unterbrach sich sofort, als bereute sie es, das Thema angesprochen zu haben.
»Ja, da bist du mir tatsächlich sehr real vorgekommen.« Alex dachte an den einen, unvergesslichen Augenblick auf der Treppe zurück. Im selben Moment meldete sich das Tattoo, es brannte wie eine Wunde und erinnerte ihn daran, wie gefährlich es für ihn sein konnte, in diese Richtung weiterzugehen.
Und doch hätte er alles dafür gegeben, Jana zu berühren, und sei es nur für eine Sekunde.
»Tut mir leid.« Jana las in seinen Augen, wogegen er ankämpfte. »Ich wollte nur sagen: Dass wir das Geheimnis des Steins nicht enträtseln konnten, liegt nicht daran, dass wir zu jung sind. David und ich sind mit Magie aufgewachsen. Wir haben schon magische Formeln gelernt, als wir kaum sprechen konnten. Man kann also nicht behaupten, wir wären unerfahren. Aber dieser Stein ist eine besondere Herausforderung. Und trotzdem glaube ich, dass wir sein Geheimnis irgendwann lüften werden.«
Alex, der sich noch immer gewaltsam gegen die Gefühle, die in seinem Inneren tobten, stemmte, konnte ihr nur mit Mühe zuhören. »Führ mir was vor«, bat er, einem plötzlichen Impuls folgend.
Jana sah ihn verblüfft an. »Ich soll dir was vorführen? Was denn?«
»Deine Magie. Eine Vision. Zeig mir meine Zukunft, irgendwas, das du sehen kannst und ich nicht.«
»So funktioniert das nicht«, sagte sie zögernd. »Visionen zeigen nicht die Zukunft, sondern eine der unendlich vielen möglichen Varianten der Zukunft. Und manchmal auch die Gegenwart oder die Vergangenheit. Wir haben keinen Einfluss darauf, was wir sehen werden.«
»Dann kannst du keine Vision über mich herbeirufen?«
Jana schüttelte traurig den Kopf. »Dazu müsste ich dich anfassen.«
»Bedauerst du, was passiert ist?« Alex stand auf. Er ging auf Jana zu.
Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. In ihren Augen konnte er erkennen, wie schwer ihr die nächsten Worte fielen: »Wenn ich Ja sage, bleibst du dann, wo du bist?«
Alex lächelte. »Nein«, antwortete er und machte noch einen Schritt auf sie zu.
»Alex, bitte. Wenn du mich noch mal berührst, könntest du sterben. Es geht einfach nicht. Nie mehr.«
Alex blieb eine Handbreit vor ihr stehen. Ein Kribbeln kroch über seine Lippen, der Schmerz in seiner Schulter war inzwischen unerträglich. »Gibt es wirklich gar keine Lösung?«, fragte er leise. »Einen
Weitere Kostenlose Bücher