Vision - das Zeichen der Liebenden
Vernichtungswelle. Damals gab es sieben Klane…«
»So viele gibt es doch jetzt auch noch.«
Missbilligend runzelte Jana die Stirn. »Ja, schon, aber es sind nicht dieselben wie damals. Wie gesagt, es gab sieben Klane und die Führung unseres ganzen Volkes lag bei den Kurilen, dem mächtigsten und ältesten Klan von allen.«
Jana schloss kurz die Augen, als müsse sie sich sehr konzentrieren, um alles richtig wiederzugeben. »Die Kurilen besaßen die Gabe, das zu sehen, was noch nicht geschehen war. Aber dafür mussten sie einen hohen Preis zahlen: Sie lebten ohne Vergangenheit, denn nur ohne die Last der Erinnerung konnten sie sich über den Strom der Zeit erheben. Diese Kunst nannten sie ›auf dem Wind der Zukunft reiten‹. Den anderen Klanen haben sie sie nie beigebracht. Offenbar war es extrem schwierig, auf dem Wind zu reiten, es erforderte eine lange, mühselige Lehrzeit. Das Problem war, dass das Wissen der kurilischen Magier häufig die Zukunft beeinflusste. Erinnerst du dich noch an das Unschärfeprinzip, das wir letztes Jahr in Physik durchgenommen haben?«
Alex nickte. »Man kann nicht gleichzeitig die Position und die Geschwindigkeit eines Teilchens messen, denn wenn man das eine misst, beeinflusst man das andere. So in etwa, oder?«
»Ja. So ähnlich ging es den Windreitern. Die Zukunft, die sie sahen, war immer nur die wahrscheinlichste aller möglichen Varianten, aber ihre Vision veränderte oft den Wahrscheinlichkeitsgrad des betreffenden Ereignisses. Das heißt, sie mussten sehr vorsichtig sein, um nicht die Zukunft zu verändern, die sie betrachteten. Vorausgesetzt natürlich, sie wollten sie nicht verändern… Denn manchmal sahen sie so unerträgliche Dinge, dass sie alles versuchten, um zu verhindern, dass sie eintraten.
Im Einzelfall war es schwer zu entscheiden, ob man den Inhalt einer Vision respektieren oder aber eingreifen sollte, um ihren Wahrscheinlichkeitsgrad zu manipulieren. Dabei konnte nämlich auch ziemlich viel schiefgehen… Trotzdem steckten die Magier ihre Ziele von Generation zu Generation immer höher. Bis sie einen ehrgeizigen Plan entwickelt hatten, der das Schicksal aller Medu und der gesamten Menschheit umfasste. Zu diesem Zeitpunkt war ihre Macht bereits so groß, dass sie nicht mehr aufzuhalten waren. Sogar die Wächter konnten den Medu nichts mehr anhaben, als sie feststellten, dass die Windreiter jedem ihrer Pläne zuvorkamen und selbst über das kleinste Vorhaben Bescheid wussten. Die Ära der Kurilen war eine glückliche Zeit für uns, wahrscheinlich die fruchtbarste in der gesamten Geschichte der Medu. Es ist ein Jammer, dass sie so schrecklich endete. Und das Seltsamste ist, dass alles mit einem ziemlich banalen Ereignis anfing…«
Jana machte eine Pause. Sie holte tief Luft. Beim Ausatmen stieß sie einen leisen, zittrigen Seufzer aus. Sie wirkte sehr blass und schien sich nur mit Mühe auf dem Stuhl halten zu können. Tränen schimmerten in ihren Augen, sodass Alex nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt noch sehen konnte.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragte er besorgt. »Hör mal, du kannst mir die Geschichte auch einfach ein anderes Mal zu Ende erzählen …«
»Das ist es nicht«, unterbrach Jana ihn flüsternd. Sie schien von weit weg zurückzukehren. »Die Sage ist so mächtig, dass sie eine Vision erzeugt hat. Ich spüre, wie sie kommt…« Sie griff mit der rechten Hand nach dem blauen Stein, der um ihren Hals hing. Als sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, leuchtete der Saphir gleißend hell auf.
Alex fuhr hoch, erschrocken machte er einen Schritt auf Jana zu, die die Augen geschlossen hatte.
»Jana, ist alles okay? Kann ich irgendwas tun?«
»Setz dich hin.« Gebieterisch hallte Janas Stimme in seinem Kopf wider. »Du wirst den Rest der Geschichte mit eigenen Augen sehen. Hab keine Angst, ich bin bei dir.«
Plötzlich schien ein eisiger Windhauch durch den Raum zu streichen, der Alex frösteln ließ. Ein violetter Schleier senkte sich über die Küche, so dicht, dass die Möbel schon bald nicht mehr zu erkennen waren. Dann zerbarst die violette Leere in Myriaden von winzigen Teilchen, die herumwirbelten, um sich nach und nach zu einem klaren Bild zusammenzufügen.
Alex sog scharf die Luft ein. Er stand in einer Art Kathedrale, einem Raum mit hohen gekalkten Gewölben und lang gezogenen Fenstern, durch die milchiges Licht einfiel. Vor ihm drängelten sich Hunderte von Menschen in Kleidern, die an Renaissance-Gemälde denken
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