Vision - das Zeichen der Liebenden
ich dann danach gesucht. Es ist ziemlich interessant, es geht darin um die astronomischen Kenntnisse früher Hochkulturen.«
Jana hatte die Seite aufgeschlagen, wo das Wachspapier mit der rätselhaften Zeichnung steckte. »Was ist denn das?« Sie breitete das Blatt auf dem Küchentisch aus.
»Keine Ahnung. Eine Skizze meines Vaters, nehme ich an. Vielleicht hat er versucht, die Sternbilder abzuzeichnen, um die es in dem Buch geht. Es wirkt, als hätte er mehrere davon übereinandergekritzelt. Ehrlich gesagt: Ich hab keinen blassen Schimmer.«
Jana betrachtete die Zeichnung ein paar Minuten aufmerksam. Als sie schließlich den Blick hob, hatten ihre Augen einen seltsamen Glanz. »Hast du einen schwarzen Kugelschreiber? Und ist es okay, wenn ich auf das Papier male?«
Alex kramte in einer Schublade nach einem Stift. »Meine Mutter ist verrückt nach den Dingern.« Er hielt ihr einen durchsichtigen Kugelschreiber hin, in dessen Inneren ein Röhrchen voll schwarzer Tinte zu sehen war. »Sie bringt sie aus dem Labor mit und verteilt sie im ganzen Haus, um immer einen zur Hand zu haben. Was hast du vor?«
»Ich will was ausprobieren. Warte kurz.« Janas Finger zitterten, als sie den Kugelschreiber über das Blatt Papier hielt, ohne es zu berühren. Sie wirkte sehr aufgeregt, fast sah es so aus, als hätte sie Angst vor dem, was sie gleich tun würde. Als sie seinen Blick bemerkte, gab sie sich einen Ruck und begann, einige der roten Linien nachzuziehen.
Peinlich genau fuhr ihre Hand über das Papier, sie schien sich die größte Mühe zu geben, jedes noch so kleine Zittern zu unterdrücken. Langsam, aber überraschend sicher wählte Jana aus dem Gewirr von Strichen ganz bestimmte aus und zeichnete sie mit dem Kugelschreiber nach.
Als sie fertig war, trat sie einen Schritt zurück. Eine ganze Weile betrachtete sie einfach nur stumm das Resultat. Die neuen schwarzen Linien bildeten etwas, das entfernt an einen Pferdekopf im Profil erinnerte. Alex’ Augen wanderten immer wieder zwischen dem Zettel und Janas Gesicht hin und her.
»Vielleicht wäre es besser, du würdest mir für die Vision etwas anderes bringen«, sagte sie schließlich gedämpft. »Ich will, glaube ich, gar nicht genauer wissen, was hinter dem hier steckt.«
Erstaunt – und zugleich skeptisch – sah Alex sie an. Wollte Jana wirklich darauf verzichten, herauszufinden, was die Zeichnung bedeutete? Dabei hatte es doch gerade ganz danach ausgesehen, als würde ihr das Muster an verworrenen Linien irgendetwas sagen. Wahrscheinlich war sie nur nicht sicher, ob sie sie in seiner Gegenwart entschlüsseln wollte. Aber etwas anderes würde ihr nicht übrig bleiben.
»Kennst du diese Figur?«, bohrte er nach. »Sieht aus wie ein Pferdekopf, oder?«
Jana nickte. »Die Skizze deines Vaters besteht aus zwei übereinanderliegenden Zeichnungen. Die, die ich nicht hervorgehoben habe, hat eine ziemlich unregelmäßige Form, viele einzelne Linien, rote und blaue… ich glaube nicht, dass sie etwas bedeuten. Sie ist viel zu asymmetrisch, zwischen den Linien scheint es überhaupt keine Verbindung zu geben. Die andere hingegen…«
»Ja?«
Statt den Satz zu beenden, begann Jana, auf dem Kugelschreiber herumzuknabbern, die Augen fest auf Alex gerichtet. Ganz offensichtlich wog sie verschiedene Möglichkeiten ab. »Bist du sicher, dass du es wissen willst?«, fragte sie ernst. »Die anderen Klane springen mir an die Gurgel, wenn ich es dir erzähle. Es ist ein Geheimnis, das nur uns Medu gehört und das die Menschen nicht erfahren dürfen…«
»Soll das heißen, wenn du es mir erzählst, bin ich in Gefahr?«
Jana zuckte ausweichend die Achseln. »Kann schon sein.«
»Wenn es dir nichts ausmacht, das Risiko einzugehen… Ich möchte es wissen, egal, welche Konsequenzen es für mich hat.« Alex hielt ihrem Blick stand.
Jana runzelte die Stirn, doch zugleich huschte ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. »Na gut«, sagte sie. »Wenn du es so willst. Was du auf dem Papier siehst, ist das Symbol des Verbannten. Es ist mit einer langen Geschichte verbunden. Aber vielleicht interessiert sie dich ja gar nicht?«
Alex unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Lass die Witze«, sagte er entschlossen. »Ich bin ganz Ohr.«
Kapitel 4
Die Sage vom Verbannten ist eine der ältesten Medu-Sagen«, begann Jana, wobei sie ihre Worte sorgfältig wählte. »Sie geht auf die Zeit zurück, bevor der Wächter der Worte zum letzten Mal erschien, das heißt vor der letzten großen
Weitere Kostenlose Bücher