Vision - das Zeichen der Liebenden
tat.
Das Problem war nur, dass es nicht stimmen konnte. Egal, was in den Berichten der Polizei und der Privatdetektive stand. Hugo Torres hätte sich nie umgebracht. Dafür liebte er das Leben und seine Familie viel zu sehr. Niemals hätte er sie auf diese Weise im Stich gelassen.
Alex setzte sich mit einem der Berichte an den Tisch und blätterte die Seiten um, ohne sie wirklich zu lesen. Er spürte die Veränderung in seiner Wahrnehmung, noch bevor sie da war. Bruchstückhafte Erinnerungen an seinen Vater strömten auf ihn ein: wie er die Schaukel anschubste, während Alex vor Begeisterung johlte; wie er Alex’ Mutter beim Nachhausekommen einen Kuss gab; die ganze Familie in den Sommerferien in einem Segelboot… Wo kamen all diese Erinnerungen plötzlich her? Und warum war er so überrascht darüber?
Es stimmte schon. Meistens versuchte er, so wenig wie möglich an seinen Vater zu denken. Es nützte nichts, sich sinnlos zu quälen mit Gedanken an eine Zeit, die sowieso nie wiederkommen würde. Aber hinter alldem lauerte noch etwas anderes, eine Erkenntnis, die er nicht hatte wahrhaben wollen. Wenn er versuchte, sich an früher zu erinnern, war das Ergebnis meist ziemlich enttäuschend. Er hatte fast alles vergessen. Die Fakten waren noch da, aber alle Empfindungen, Gerüche, Farben und Gefühle fehlten… Es kam ihm so vor, als wären ihm ganze Jahre seines Lebens gestohlen worden.
Und jetzt war die Erinnerung auf einmal wieder da, zwar nur bruchstückhaft, aber zumindest bewegte sie etwas in ihm. Es tat furchtbar weh und war doch zugleich ein Trost. Sie brachte ihm einen Teil dessen zurück, was er mit dem Tod seines Vaters verloren hatte. Nur einen winzig kleinen Teil, okay, aber trotzdem unendlich kostbar.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen, als er bemerkte, dass er sich schon viel zu lange im Arbeitszimmer aufhielt. Er hatte alles gesehen, was er sehen wollte, und wenn er noch länger blieb, riskierte er, von seiner Mutter erwischt zu werden. Vorsichtig legte Alex die Berichte wieder in die Mappe und schloss sie, dann strich er mit den Füßen eine Falte im Teppich glatt. Fertig. Jetzt war alles wieder so wie vorher.
Mit einem leisen Seufzer zog er geräuschlos die Tür hinter sich zu und verschloss sie wieder.
Er musste dringend mit Laura reden. Normalerweise sprachen sie nicht über die Vergangenheit. Aber Alex hatte es plötzlich satt, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Er musste wissen, ob sie auch so viel vergessen hatte wie er. Ob es ihr wehtat, wenn sie sich an etwas erinnerte.
In der Küche war niemand, also klopfte er sachte an ihre Zimmertür.
Keine Reaktion.
Er drückte die Klinke herunter und schlüpfte in den Raum.
Laura saß mit Kopfhörern auf den Ohren auf dem Fensterbrett und schaute in den roten Abendhimmel. Sie hatte nicht bemerkt, dass er hereingekommen war. So war also seine kleine Schwester, wenn sie allein war.
Sie wirkte sehr zart. Ihre Augen waren fest aufs graue Meer geheftet, das hier und da rosa funkelte. Abwesend bewegte sich ihr Kopf im Rhythmus der Musik, während ihre Gedanken ganz offensichtlich weit, weit weg waren, jenseits des Horizonts. Gedanken, die nicht besonders fröhlich zu sein schienen.
Alex zögerte ein paar Sekunden. Dann steckte er den Schlüssel in seine Hosentasche und wich auf Zehenspitzen zurück, bis er wieder im Flur stand. Als er die Tür hinter sich zuzog, versetzte es ihm einen Stich ins Herz. Wie wenig er von seiner kleinen Schwester wusste, die immer so positiv und gut gelaunt wirkte und die so vieles für sich behielt.
In diesem Moment hätte er am liebsten geweint.
Kapitel 7
Am Samstagabend setzte er sich an den Computer und surfte so lange im Internet, bis er Davids E-Mail-Adresse gefunden hatte. Dann überlegte er lange, was er ihm genau schreiben sollte. Schließlich entschied er sich, David einfach nur um ein Treffen zu bitten, ohne große Vorrede oder Angabe von Gründen.
Ich muss dich sehen, schrieb er. Du schuldest mir eine Erklärung. Können wir uns am Sonntagvormittag um 11 im Larson-Park am großen Brunnen treffen? Wenn dir Zeit oder Ort nicht passen, melde dich.
Dann fügte er noch seine Telefonnummer hinzu, damit David ihn erreichen konnte, falls er den Termin ändern wollte. Doch der entsprechende Anruf blieb aus. Am Sonntagvormittag um elf lief Alex also schon eine ganze Weile durch den feuchten Sand auf den Wegen im Larson-Park, ohne den Brunnen aus den Augen zu lassen.
David kam mit zwanzig Minuten Verspätung.
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