Vision - das Zeichen der Liebenden
darauf?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wegen dem, was mit mir passiert ist. Da waren auf einmal so viele Erinnerungen an die Zeit mit Papa. Und irgendwie war mir auf einmal klar: Papa war nicht der Typ, der Selbstmord begeht.«
Seine Mutter seufzte. Ihr Blick verlor sich einen Moment lang in der Ferne, als sie aus dem Fenster sah. »Wenn ich doch nur wüsste, was an dem Tag passiert ist«, murmelte sie leise.
Laura ging zu ihr und strich ihr über die Wange, während Alex die beiden mit einem Kloß im Hals beobachtete.
»Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte er. »Irgendwann finden wir es raus.«
Kapitel 3
Am Morgen nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging Alex nicht zum Unterricht. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er noch ein paar Tage zu Hause blieb, bis er wieder ganz fit war, und seiner Lehrerin eine Entschuldigung geschrieben.
Es war wirklich eigenartig: Was Alex im Krankenhaus über den Tod seines Vaters gesagt hatte, schien bei Helena – entgegen Lauras Befürchtung – eine positive Veränderung hervorgerufen zu haben. Noch am selben Tag, nachdem der Arzt ihren Sohn untersucht und nach Hause entlassen hatte, hatte sie erklärt, heute nicht mehr ins Labor zu gehen, und vorgeschlagen, stattdessen zusammen einen Film anzusehen. Alex und Laura hatten etwas überrumpelt genickt. Es war seit Jahren das erste Mal, dass sie planten, etwas zu dritt zu machten – außer essen oder gemeinsame Einkäufe. Auf dem Weg nach Hause hatten sie einen alten Film auf DVD und eine Familienpackung Popcorn gekauft. Als der Film zu Ende war, waren alle drei noch eine Weile vor dem ausgeschalteten Fernseher sitzen geblieben und hatten sich unterhalten. Sie hatten viel gelacht. Es war fast wie in alten Zeiten gewesen.
Vielleicht war Alex deswegen an diesem Morgen gut gelaunt aufgewacht. Die düstere Geschichte der Medu-Klane, die Erik ihm erzählt hatte, spukte noch immer in seinem Kopf herum, aber trotz allem spürte er eine Erleichterung in sich, die neu war. Etwas hatte sich verändert in dieser Familie, die so lange Zeit kaputt gewesen war. Sie hatten einen Schritt aufeinanderzugemacht, einen ersten Versuch, wieder Zugang zueinanderzufinden. Das war wichtiger als das Tattoo und die Klane.
Es klingelte. Zerstreut stand er auf, in Gedanken noch bei einer Szene des Schwarz-Weiß-Films vom vorigen Abend. Er schrak zusammen, als er die Tür öffnete und sah, wer vor ihm stand: Es war Jana.
»Ich bin so froh, dass du überlebt hast!« Fröhlich trat sie ein, ohne seine Reaktion abzuwarten. »Du hast uns einen schönen Schreck eingejagt.«
Alex wusste nicht recht, was er sagen sollte. »Hey! Müsstest du nicht in der Schule sein?«, war alles, was er herausbrachte.
Jana sah ihn mit ihren großen, samtweichen Augen verschmitzt an.
»Du brauchst dich nicht zu bedanken, es ist mir ein Vergnügen, dich zu besuchen.« Sie verbeugte sich theatralisch. »Im Ernst, geht’s dir gut?«
»Ja, klar, mir geht’s super«, versicherte Alex hastig. »Komm doch mit in die Küche. Magst du was trinken?«
Er drehte sich um und ging vor ihr durch den Flur. Es ging ihm gut, das stimmte. Aber nicht so gut wie vor Janas plötzlichem Auftauchen. In ihrer Gegenwart waren erneut alle Gegenstände in der Umgebung zum Leben erwacht. Mit fast schmerzhafter Deutlichkeit drängten sich ihm die Farben, Formen und Gerüche auf. Da war zum Beispiel der leichte Staubgeruch des Flurteppichs, den er noch nie zuvor wahrgenommen hatte, oder der winzige Sprung in einem der Bilderrahmen an den grauen Wänden. Jedes Detail sprang ihm ins Auge, nistete sich in seinem Gehirn ein, verlangte seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Würde das jetzt immer so sein, wenn Jana in der Nähe war? Wenn es doch nur das wäre! Wieder einmal verfluchte er David insgeheim.
»Ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob ich herkommen soll«, sagte Jana, als sie die Küche betraten. »Das alles ist für dich bestimmt ziemlich hart und es tut mir unendlich leid. Ich meine das mit dem Tattoo. Und dass wir uns nicht anfassen können.«
Alex war auf der Hut. »Wie ist es für dich? Ist es hart für dich?«, fragte er zurück.
Jana starrte auf den Herd. »Ja«, sagte sie fast unhörbar. Dann hob sie den Blick. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als ihre Augen sich begegneten. »Hast du Kaffee?«, fragte sie und klang schon wieder gewohnt selbstbewusst. »Ich brauche unbedingt einen. Ich hatte keine Zeit zu frühstücken, bevor ich aus dem Haus gegangen bin.«
Alex
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