Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
gekommen war. Wenn sie es nur bis Montag aushielt, und wenn sie es schaffte, dass Rob ihr den Kristallsplitter gab …
… und wenn sie die Zahlenkombination herausfand.
Das war die absolute Grundvoraussetzung, wenn sie allein in den Raum wollte.
Noch während sie sich abtrocknete, suchte Kaitlyn ihre Ölkreiden heraus.
Das letzte Mal hatte sie sich nicht auf die richtige Sache konzentriert. Sie hatte versucht, in den Raum hineinzusehen – und nur der Himmel wusste, warum sie so einen Müll produziert hatte. Vielleicht hatte Joyce zusammen mit dem Kristall auch einen Weihnachtsbaum dort stehen. Vielleicht gab es im Raum ein Schiffsmodell. Egal, sie wusste nun, woran sie denken musste.
Zahlen. Sie brauchte die Kombination für das Schloss. Und mit ihren Malsachen, mit ihren geliebten Ölkreiden und ihrem getreuen Skizzenbuch würde sie diese Zahlen herausfinden.
Die Tür war geschlossen, die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet. Kaitlyn warf ein T-Shirt über die Nachttischlampe, um das Licht zu dämpfen – so war die Stimmung ideal. Ein Handtuch um das nasse Haar geschlungen, setzte sie sich im Schneidersitz aufs Bett und malte los.
Noch nie hatte sie so hart daran gearbeitet, ihren Geist völlig zu leeren. Sie stürzte sich geradezu in die völlige Dunkelheit. Ihre Finger juckten und verkrampften sich, und dann spürte sie, dass sie sich bewegten, immer neue Pastellkreiden nahmen, Farben über die Seite verteilten.
Wenige Minuten später sah sie sich an, was sie gemalt hatte.
Das kann nicht wahr sein, dachte sie.
Es war wieder ein Segelschiff mit Weihnachtsbaum.
Diesmal in Farbe. Die Segel waren weiß, die Planken in einem dunklen Sienabraun, die hübschen Wellen in
Blautönen gearbeitet. Und auf dem Deck stand stolz ein celadongrüner Weihnachtsbaum mit karmesinrotem Lametta und einem ockergelben Stern.
Wütend knüllte Kaitlyn das Papier zusammen und warf es gegen den Spiegel.
Sie wollte etwas zerstören, etwas gegen die Wand schmettern.
Da flog die Tür auf.
Sofort verschwand Kaitlyns Wut, und Angst schwemmte in das entstandene Vakuum. Lydia hatte es ihnen gesagt. Sie waren gekommen, um sich Kaitlyn zu schnappen. Hinter der Gestalt, die in der Tür stand, hörte sie im Gang Schritte.
»Hey, Kait, warum ist es denn so dunkel hier?«, brüllte Bri. Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte sie hinzu: »Komm schon! Anziehen!«
Wofür, für die Exekution?, fragte sich Kait, hörte aber ihre eigene Stimme gefasst fragen: »Wozu denn?«
»Es gibt was zu feiern! Wir gehen zusammen in die Disco! Komm schon, zieh dich an, such dir deine schicksten Sachen raus. Da gibt’s super Typen«, fügte Bri listig hinzu. »Hast du was zum Anziehen? Ich kann dir auch Klamotten leihen.«
»Äh – danke, ist schon okay, ich habe etwas«, sagte Kaitlyn hastig. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was für »Klamotten« Bri ihr leihen wollte. Doch Bris Aufregung wirkte ansteckend, und Kaitlyn kramte schon im
Kleiderschrank. »Ich habe ein kleines Schwarzes. Aber was feiern wir eigentlich?«
»Wir haben heute Nachmittag einen Job erledigt«, sagte Bri und streckte die Faust nach oben aus wie ein Boxer. »Einen Astral-Job, einen richtig großen. Wir haben LeShan umgebracht.«
»Ich habe sie auf der Treppe getroffen. Sie hat gesagt, sie will zu euch«, sagte Tonys Freund. Rob, Lewis und Anna saßen in der winzigen Einzimmerwohnung. Rob schielte an Tonys Freund vorbei zu der Person, die sie sehen wollte.
»Ich habe euch von Haus zu Haus verfolgt«, sagte das Mädchen. Sie war sehr hübsch, hatte unbändige Locken und ein klassisches griechisches Profil. Die olivfarbene Haut und die Augen, die wie bei Lewis mandelförmig waren, wollten nicht recht zu den blonden Haaren passen.
Sie erkannten das Mädchen gleich wieder. »Du gehörst doch zur Gemeinschaft«, sagte Rob.
»Tamsin«, erklärte Anna, ehe das Mädchen antworten konnte.
Tamsin nickte ihr zu. Sie sah aus, als versuchte sie zu lächeln, doch es wollte ihr nicht gelingen. Die Lippen zitterten, und schließlich senkte sie den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf.
Von der Tür her sagte Tonys Freund: »Ich hole euch später ab« und ging.
»Was ist denn?« Rob führte das Mädchen zu einem Stuhl. Die freudige Erregung, die er bei ihrem Anblick zunächst verspürt hatte, war gewichen wie Luft aus einem Ballon. Die Hoffnung, dass die Gemeinschaft ihnen jemanden zu Hilfe geschickt hatte, war dahin.
»Eigentlich bin ich ja gekommen, um euch zu helfen«,
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